In vielen Kinos ist Joachim Langs Film über den Ballett-Charismatiker John Cranko angelaufen
TÜBINGEN. Im Stuttgarter Staatstheater, natürlich, war eine Preview. Zu einer Sonntagsmatinee kam Regisseur Joachim Lang mit seinem Film „Cranko“ ins ausverkaufte Tübinger „Museum“. Das Biopic, mit dem SWR fürs Fernsehen koproduziert, könnte auch in den Kinos ein überraschender Erfolg werden. Und das völlig zu Recht.
Er hatte fast aus dem Nichts und tief in der Provinz das „Stuttgarter Ballettwunder“ geschaffen, von dem dann die New York Times sprach. Viele von dieser Family, die der in Südafrika geborene Brite um sich scharte, leben noch: Marcia Haydée, die fast vom Aschenputtel zur Primaballerina assoluta aufgestiegene Brasilianerin, der Däne Egon Madsen, Birgit Keil, der zweite weibliche Star. Tot sind Leute wie Richard Cragun oder, sehr lang schon, Walter Erich Schäfer, damals Generalintendant und gewissermaßen zweiter Wundertäter. Hanns Zischler spielt den Mann im Hintergrund ganz großartig.
Darüber hinaus hat sich Regisseur Joachim Lang bei den Erben bedient: Echte Tänzerinnen und Tänzer des Stuttgarter Balletts spielen ihre Vorgänger. Und so ist – unter der wunderbar beweglichen, aber nie hektischen Kameraführung von Philipp Sichler, der auch die vielen getanzten Traumsequenzen betörend ins Bild zu setzen versteht, ein ganz großartiger Ballettfilm aus „Cranko“ geworden.
Für die Hauptrolle wurde der lang schon in Berlin lebende Sam Riley ausgewählt, dem man jenes Deutsch mit britischem Akzent abnimmt, für das sich der Regisseur und Drehbuchautor Joachim Lang bei John Cranko entschieden hat. Ein gutaussehender, wohlgewachsener Mann wie das Vorbild, das 1961 wegen seiner Homosexualität aus London vertrieben wurde und ausgerechnet im vermeintlich spießig-schwäbischen Stuttgart eine tolerante neue Heimat, vor allem aber einen neue Wirkungsstätte finden konnte. Vielleicht gibt ihn Riley über die ganze erzählte Zeit, eine große Zeit, zu gutaussehend und optisch zu aufgeräumt.
Denn John Cranko war wohl ein Wrack, als er 1973, gerade mal 45 Jahre alt, auf dem Rückflug von einer wiederum umjubelten USA-Tournee im Kreis seiner Truppe starb, vermutlich an einem allergischen Medikamenten-Schock. Eine Notlandung in Dublin nützte nichts mehr. Cranko hatte jahrelang Raubbau an seinem Körper getrieben: Kettenraucher, auch wo das verboten war, ein schwerer Trinker mit Neigung zu rauschenden Festen, aber auch ein rastloser Arbeiter, dazu von Schwermut und – trotz unablässigem Halligalli – von Einsamkeit geplagt, vielleicht manisch-depressiv nach heutigen Kriterien.
Zwei Selbstmordversuche hatte der charismatische Choreograf hinter sich – mitten im umjubelten Welterfolg mit seiner Kompagnie; einmal, nachdem ihn „Alex“ (Dirk Ottenbacher), die Liebe seines Lebens, auf Anordnung von dessen Eltern hatte verlassen müssen, ausgerechnet nach Südafrika. Der hochsensible Ästhet neigte auch zu exzessiven sexuellen Beziehungen mit Leuten oft weit unter seinem Niveau. Der Film setzt das ganz eindrucksvoll dezent in Szene.
Vielleicht tanzen die Darsteller etwas besser als sie schauspielern. Vielleicht neigen die Dialoge, die eine einzigartige visionäre Schöpferkraft und diese unvergleichlich mitreißende Ausstrahlung bannen wollen, zuweilen ein wenig ins Pathos. Vielleicht werden die dunklen, nicht nur die leidenden Seiten dieses Charakters eine Spur zu hell dargestellt – bis auf eine Ausnahme: Einmal macht der betrunkene Cranko Heinz Clauss, einen seiner wichtigsten Tänzer, auf tief verletzende Art nieder, was auch durch eine spätere Entschuldigung nicht wiedergutgemacht werden kann. Im Film ist sogar von einem Selbstmord die Rede, was aber beim wirklichen Clauss nicht der Fall war.
John Cranko und seine kleine WG aus Vertrauten bekamen auf Schloss Solitude über Stuttgart-Weilimdorf ein Kavaliershäuschen zur Verfügung gestellt. Dort wollte der bis heute einflussreiche Ballett-Magier auch begraben werden. Die Schlussszene erinnert ein wenig an „Schindlers Liste“, wo die Shoah-Überlebenden kleine Steine aufs Grab ihres Retters am Jerusalemer Zionsberg schichten. In „Cranko“ sind es rote Rosen, die echte alte Weggefährten und neue Darsteller in bunter Mischung auf sein Grab legen.
Ein rundum gelungener Film – ein Must see für Ballettfreunde und ein Biopic, das auch Unbedarfte neugierig machen kann auf dieses kleine Genre des Tanzes, das in Stuttgart – bei aller Tragik – vor einem halben Jahrhundert ein wirkliches Wunder hervorgebracht hat, das bis heute nachwirkt.
(später mehr Fotos und Links)