Die Tübinger Blaue Brücke zeigen Kathryn Bigelows nuklearen Weltende-Thriller „A House of Dynamite“
TÜBINGEN. Der sowjetische Oberst Stanislaw Petrow hat am 26. September 1983 der Menschheit – pardon – den Arsch gerettet. Durch Befehlsverweigerung. Dasselbe Szenario, ein atomarer Angriff, nur umgekehrt und mit offenem statt mit glimpflichem Ende, ist der Rahmen von Kathryn Bigelows apokalyptischem Thriller „A House of Dynamite“.

Die Frau beherrscht das Genre. Sie hat die Jagd nach Osama Bin Laden und seine Tötung („Zero Dark Thirty“) realistisch inszeniert und überhaupt mengenweise Oscars und andere Preise abgeräumt.
Der Film hat eine sehr originelle Struktur. Er schildert die knapp 20 Minuten von der Entdeckung einer nuklearen Interkontinentalrakete unbekannten Urhebers im ostasiatischen Pazifik bis zum sehr schnell sehr exakt berechneten Einschlag in Chicago aus drei Perspektiven – nacheinander. Zunächst sind da die Militärs, von der NSA-Wächtern über die in Alaska und Kalifornien stationierte NMD-Abwehr bis zum Strategic Command in Nebraska und der Zivilschutzorganisation FEMA.

Dann geht es um die Verantwortlichen im Weißen Haus, dem State Departement und dem Pentagon in Washington. Ein Hühnerhaufen. Viele Überforderte, aber auch ein paar Nervenstarke mit klarem Kopf. Unter Schock stehen sie alle.
Und schließlich geht es um den Präsidenten selber, der – wie Bush bei der 9/11- Attacke – aushäusig bei einem Basketball-Termin mit jungen Sportlerinnen weilt. Und aus seinem „Beast“ heraus, dann dem Hubschrauber über das Schicksal der Welt entscheiden muss. Der überforderte Berater hat ihm „Kapitulation oder Selbstmord“ als Alternativen genannt. Der Träger des „Atomkoffers“, stets an seiner Seite, lässt ihn im Ordner mit den drei Härtegraden und den vielen denkbaren Zielen für einen Gegenschlag blättern.
Alle drei bis in den Wortlaut der Dialoge parallelen Episoden enden mit dem Ablauf dieses Countdowns zum Doomsday in der Sekunde vor dem vorausberechneten Einschlag in der Metropolregion Chicago mit ihren knapp zehn Millionen Menschen. Das ist natürlich dreifach zum Zerreißen spannend. Kathryn Bigelow inszeniert diesen Thrill in überragender Präzision von Dramaturgie (Drehbuch: Noah Oppenheim), Schnitt (Kirk Baxter) und Kamera (Barry Ackroyd). Pure Professionalität allenthalben.
Die Filmmusik des deutschen Oscar-Preisträgers Volker Bertelmann („Hauschka“) ist eben echtes, bestes Hollywood: Gerade in den Szenen ahnungsloser Ruhe auf den Straßen und Plätzen von Washington oder Chicago will sie die Spannung aufrechterhalten und trägt auch sonst über den Kriegs-Sound startender Raketen und B2-Bomber hinaus, , die mit der Hektik in den Stäben gegengeschnitten sind, recht dick und bedrohlich auf.
Kathryn Bigelow kann bis in die kleinsten Nebenrollen auf exzellente Schauspieler zurückgreifen, von denen vielleicht Rebecca Fergusson als taffer Captain Olivia Walker im Situation White House Situation Room (und als Mutter), aber auch Idris Elba als (schwarzer) US-Präsident herausgehoben werden dürfen. Die Close-ups zeigen die Fassungslosigkeit der Akteure ebenso wie ihre Coolness und Disziplin – je nach Typ.

Der politische Rahmen der Fiktion ist einigermaßen plausibel abgesteckt – bis auf die paar Minuten, in denen der Abschussort und damit der Angreifer unerkannt bleibt. Ganz so blind sind die amerikanischen Satelliten wohl nun auch wieder nicht. Nordkorea, das mit Atom-U-Booten aufgerüstet haben soll, bleibt für die Story der wahrscheinlichste Angreifer. Der russische Außenminister beteuert die Unschuld seines Landes und will dabei in Abstimmung – nach kurzem diplomatischen Draht – auch für China sprechen.
Bei der Uraufführung am Lido in Venedig soll es 18 Minuten lange stehende Ovationen für Kathryn Bigelows Film gegeben haben, obwohl er bei der Preisverleihung der Filmfestspiele dann leer ausging. „A House of Dynamite“ wird dort wohl auch als eindringliche Warnung und Mahnung verstanden worden sein. Dass den Film jene Damen und Herren Politiker gesehen hätten (oder es vorhätten), die so bedenkenlos fahrlässig die Kriegskarte spielen, ist nicht überliefert.
(FSK ab 12)
