In der Tübinger Stiftskirche sangen drei Chöre preisgekrönte Werke des Komponistinnen-Wettbewerbs
TÜBINGEN. Klingt das weiblich? Ja, schon. Durchaus. Vielleicht war darüberhinaus auch ein gemeinsamer zeitgenössischer Ton wahrnehmbar, als am Samstagabend in der Tübinger Stiftskirchen-Motette drei hervorragende Chöre zehn ausgezeichnete Werke von zehn Komponistinnen in drei Kategorien der Chormusik sangen. Ein Fest.
Acht der Preisträgerinnen waren (wie Jury-Leiter Prof. Enjott Schneider) zugegen und bekamen Blumen. Ausrichter des Wettbewerbs war das „Archiv Frau und Musik, Internationale Forschungsstätte in Frankfurt am Main“ in Zusammenarbeit mit den Tübinger Organisatorinnen des großartigen Tübinger Komponistinnen-Festivals vom Oktober 2023. Das Publikum füllte das Mittelschiff und seitlich noch einige weitere Plätze.
Arbeiten könnte man noch an den Titeln, die an bemühter Umständlichkeit und Bekennertum kaum zu überbieten sind: „Anima(l): Seele – Tier – Schöpfung“. Der Wettbewerb selber, zweite Ausgabe nach 2022, war in feinstem Denglisch mit „females* featured 2“ überschrieben. Oje, oje… Die Werke aber – und zwar ausnahmslos – waren, wie die Chöre, wirklich vom Feinsten. Den Stuttgarter Knabenchor collegium iuvenum leitete Sebastian Kunz. Das Frauenensemble VocaBella unter Monika Zacharias ist ebenso in Tübingen beheimatet wie das von Mathias Klosinski im Jahr 2018 gegründete Ensemble Horizons, unter den vielen tollen Chören der Stadt und der Region inzwischen wahrscheinlich der beste.

Die Einführung durch die Co-Jurorinnen Mary Ellen Kitchens und Inga Brüseke samt Vorstellung der Preisträgerinnen zeigte, dass Komponistinnen nicht nur in Deutschland – fraglos einem Schwerpunkt – im Kommen sind, sondern die Musikerinnen und ihre Werke auch international allmählich die längst überfällige Beachtung und Würdigung finden. Die Liste der Auszeichnungen und Preise, teils in aller Welt ausgelobt und verliehen, war bei vielen von ihnen lang, bei einigen sogar sehr lang.
Vielleicht dürfen einmal, ausnahmsweise, die beobachteten Tendenzen vorangestellt werden, unterschiedlich an Bedeutung und verschieden gewichtet auch in den einzelnen Werken: Der chorische Gesang und der Klang der menschlichen Stimme rücken bei den Komponistinnen wieder stärker ins Zentrum. Der durch Geräusche und „Maulwerk“ (Pionier Dieter Schnebel) wie Summen, Sprechen, Flüstern, Hauchen erweiterte Tonraum wird sparsamer und gezielter eingesetzt, nicht als avantgardistischer Selbstzweck. Klatschen oder Stampfen etwa, Percussion: ein Beiwerk.
Die Harmonik setzt den Wohlklang von Dur oder Moll hin und wieder ganz unbefangen ein. Die Dissonanz allerdings bleibt emanzipiert: Seit Wagners Tristan-Akkkord ist sie nicht mehr Durchgang, sondern hat Eigenwert für Farbe und Ausdruck und darüber hinaus. Richtig scharfe Querstände, kleine Sekundreibungen, fanden sich in fast allen Werken des Abends. Das ist natürlich schwerer zu singen als eine simple Kadenz, vor allem unbegleitet, a cappella. Ab und an sind Ansätze von Polyphonie zu hören. Nicht gerade ausgewachsene Kontrapunktik, aber Imitatorisches, Fugiertes.
Die Texte, gerade eigene oder allzu zeitgeist-schwangere, sind nicht immer die stärksten Teile des Werks: manchmal nah am Gefühlsseligen, an Naturschwärmerei, am Pathos, gar am Kitsch, der gefährlich ist, weil er Vernunft und Geschmack versehrt. Zuweilen gibt es auch eigenes Witziges – oder den Humor eines Christian Morgenstern. Schön, dass auch auf unsterbliche Klassiker zurückgegriffen wird: auf Shakespeare-Sonette oder Worte der Hildegard von Bingen, auf Heinrich Heine oder die Katze (LI.) aus den „Fleurs du mal“ von Charles Baudelaire.

Katharina Schwaller, mit dem kategorieübergreifenden Sonderpreis des Wettbewerbs ausgezeichnet, gab mit ihrem Werk „Anima“ über einen eigenen, englischsprachigen Gedichttext das Motto vor und vielleicht auch den Ton: flächenhaft klangstark, erweitert tonal mit lautmalerischen Einschüben. Als junge, 1989 in Kaiserslautern geborene und in Landsberg am Lech lehrende Schulmusikerin (Zweitfach: Mathe) hat sie schon einen wirklich beeindruckenden Werdegang hinter sich. Als Kind am Klavier, dann dem Kontrabass praktisch ausgebildet, schloss sie vor dem Studium zunächst eine Schreinerlehre ab mit dem Ziel Instrumentenbau. Neben dem Lehramt und dem Komponieren wirkt sie auch als Chorleiterin und Organistin.
Die französisch-niederländische Komponistin Camille van Lunen, Jahrgang 1957, darf als etabliert gelten. Ihr „Morgenstern“, von einem springlebendigen Klavier begleitet, ist ausgesprochen sprachorientiert rhythmische Musik, sehr souverän gesetzt, ganz plastisch reich an Effekten und von feinem, eben auch musikalischem Humor. Ein Schrei beim tierischen Schrecken, Decrescendissimo bis zum Flüstern am Ende: „…und jetzt steig ich aus.“ Camille van Lunen bekam für dieses ausgesprochen jugendgerechte, zugängliche Stück einen 3. Preis in der Kategorie Jugendchor.
In „Jay“ (zu Worten von Robert McFarlane) versammelt die Mexikanerin Elisa Schmelkes, 1987 geboren, die oben genannten Tendenzen vielleicht am vollständigsten und ausgeglichensten. Die lyrische Allegorie über den Eichelhäher drückt auch aus, was sie ausmacht als Komponistin, Regisseurin, Pädagogin und Aktivistin. Sie bekam den 1. Preis in der Kategorie Jugendchor.
Von Weltmusik hat sich auch Tina Ternes (*1969) inspirieren lassen, die nach Musikunterricht in Klavier und Kontrabass in Mainz zur Schulmusikerin ausgebildet wurde und im pfälzischen Frankenthal wirkt. Maßvoll experimentell und erweitert tonal gebunden, scheint „Die Seele ist wie der Wind“ in ihren vom Melos unterlegten Klangflächen vielleicht am stärksten polyphon ausgerichtet. VocaBella mit seinem starken Sopran sang das Stück über einen Text der Hildegard von Bingen, deren mystischen Worten vielleicht noch etwas mehr deklamatorische Deutlichkeit gutgetan hätte. Das Werk bekam den 3. Preis in der Kategorie Frauenvokalensemble zugesprochen.

Den 2. Preis erkannte die Jury darin dem dreiteiligen Stück „Selkie“ von Susanne Wagner zu. Deren musikalische Arbeit „verbindet Querflöte mit Atem, Körper, Natur und elektronischen Texturen“. Ihr Text ist eine wuchtige Paraphrase auf Märchen von Clarissa Pinkola Estes. Ihrem Vokalsatz – zwei Solostimmen und eine fächerartiges Percussions-Instrument treten hervor – merkt man die Erfahrung mit avancierten Klangtechniken an.
Siegerin der Kategorie wurde die 1962 geborene Mona Rasenberger mit ihrer originellen Vertonung der federleicht ironischen Heine-Romanze „Schmetterling und Rose“. Die Komponistin bekleidet ihr Lehramt mit den Fächern Musik und Französisch in Mainz, hat viel mit Kindern gearbeitet und unter anderem Musicals komponiert. Sie setzt Sopran-Solo als geschmeidige Kantilene der Nachtigall ebenso ein wie fugierten Sprechgesang und ist sehr freigiebig mit färbender, schärfender Dissonanz. Doch das Wort „verliebt“ unterlegt sie selbstverständlich mit einem reinen Dur. Den aufblühenden Schlussakkord zur Nachtigall aber lässt sie wiederum nicht ganz unverfremdet von einer dissonaten Stimme, sauber intoniert von VocaBella.
Mit der Kategorie Kammerchor trat das formidable Ensemble Horizons aufs Podium. Die 1981 geborene Birke Jasmin Bertelsmeier, in Köln diplomiert, Villa-Massimo-Stipendiatin und Meisterschülerin von Wolfgang Rihm, bekam für „Le Chat“, die geheimnisvolle Teilvertonung eines Poems von Charles Baudelaire, einen dritten Preis. Es beginnt mit zarten, dünnen Akkorden, mit Querständen geschärft, die sich später auch mal zu mächtigen Clustern türmen.
Die Männer summen lange durchgängig. Alle Stimmen treten in Abschnitten quasi-solistisch hervor, was viel plastische Kontur am gut verständlichen französischen Text entlang ergibt. Die großartige Stimmkultur des Ensembles Horizons, die absolute Präzision in Ton und Rhythmus bis in die exakt ausgekosteten Pausen, tun dieser musikalischen Poesie natürlich besonders gut. Auch die andere Trägerin des 3. Preises profitierte davon.

Jutta Michel-Becher, Jahrgang 1965 und studierte Musikwissenschaftlerin wie auch Phonetikerin, stellte das vielleicht disparateste Stück des Abends vor, das mit einem tonlos pustenden F-Laut anhebt. Die drei Teile des Eigentextes mit je ganz eigener Charakteristik widmen sich der Seele, dem Tier und der Schöpfung in einer höchst vielfältigen Tonsprache von Melodie über Ruf bis zur Lautmalerei. Am Ende stimmt das Publikum – vorab von Matthias Klosinski eingewiesen – mit dem motorisch insistierenden „(Die Schöpfung) braucht dich und auch mich“ in die flächige chorische Klangstruktur ein.
Das im Duktus vielleicht mächtigste, erhabenste Stück des Abends steuerte Rucsandra Popescu (*1980) bei mit ihrer Teilvertonung von Zeilen aus William Shakespeares XIX. Sonett über die zerstörerische Kraft der Zeit. Die unglaublich vielseitige, in Bremen lebende Rumänin hat das Gedicht durch einen lateinischen Sinnspruch ergänzt, zu dem das Ensemble stampft und klatscht.
Den Abschluss machte Lucia Birzer, die jüngste der Komponistinnen und erste Preisträgerin Kammerchor, die als Chordirektorin und Kapellmeisterin am Theater Regensburg arbeitet. Mit ihrem Werk „Afterwards“ über geichermaßen naturromantische wie apokalyptische Worte von Sara Teasdale in englischer Sprache huldigte sie in einer großen Bandbreite von Satztechnik und Ausdruck einem düsteren Pessimismus. Der Chor sang das mit der gewohnten Genauigkeit und Klangsensibilität in einer wandelnden Aufstellung. Das Stück endete nach dissonanten Akkordflächen in einem verhauchenden Pianissimo mit dem Abgang des Chores in die Stille.
Etwas zu früh brach dann tosender Applaus los, zu dem sich alle Beteiligten, die drei Chöre, drei Dirigenten, die angereisten Komponistinnen sowie die Organisatorinnen und Jury-Mitglieder auf dem Podium zusammenfanden. Ganz lange durften sie alle in dem endlosen Beifall geradezu baden.


