Das Pariser Quatuor Modigliani eröffnete glanzvoll den 50. Jahrgang des Reutlinger Kammermusikzyklus
REUTLINGEN. Es ist etwas Besonderes, wenn sich ein Streichquartett nach einem Maler benennt, dem Solitär Amedeo Modigliani. Es ist etwas Besonderes, wenn das in Paris beheimatete Quatuor Modigliani den 50. Reutlinger Kammermusik Zyklus eröffnet. Und es ist etwas Besonderes, auf was für kostbaren Instrumenten die vier am Conservatoire ausgebildeten Franzosen musizieren: Primgeiger Amaury Coeytaux auf einer Cremoneser Stradivari von 1715, Loϊc Rio auf einer Geige, die Giovanni Battista Guadagnini 1780 in Turin fertigte, Brastschist Laurent Marfaing auf einer Viola Luigi Marianis von 1660 und der Cellist Franςois Kieffer auf einem Instrument von Matteo Goffriller aus dem Jahr 1706. Dass Sponsoren das 2003 gegründete Quartett so großzügig ausstatten, zeugt von seinem Ruf.
Der Kammermusiksaal der Stadthalle war nicht ganz voll besetzt am Mittwochabend. Das so kundige wie verwöhnte Reutlinger Publikum mag womöglich noch zu Teilen im Sommermodus verblieben sein und wurde von einem sichtlich stolzen Ersten Bürgermeister Robert Hahn begrüßt. Die Musiker werden ihre Gründe gehabt haben, warum sie Anton Weberns „Fünf Sätze“ opus 5, erste konzentrierte Frucht seines Unterrichts bei Arnold Schönberg, durch etwas völlig anders Geartetes ersetzten: durch die zauberhaften „Crisantemi“ von Giacomo Puccini, immerhin eine Entdeckung. Aber vielleicht passt der romanisch-romantische Charme dieses Stücks als Visitenkarte gegenüber der Strenge einer Zweiten Wiener Schule besser zum ungemein feinen, oft genug betörenden und dabei stets präzise stimmigen Klang dieses großartigen Ensembles.
Die Delikatesse dieser kleinen Trauermusik führte schon alle Klasse vor, die das Quator Modigliani auszeichnet. Die eminent feine Abstimmung macht vor allem in den leisen Passagen einen vom ersten Takt an überwältigenden Eindruck. Jedes Rubato, jede sachte Verdichtung in der Phrasierung, diese unglaublichen Decrescendi, selbst die Spiccato-Einwürfe sind von so erlesenem Geschmack, von so eleganter Klangkultur, dass einem der Atem stockt. Crescendo bedeutet nicht Auftrumpfen, sondern Aufblühen. Wenn der Eindruck entstand, die Außenstimmen hätten Übergewicht, so lag das am Satz Puccinis, der den Opernkomponisten bei diesem Ausflug in ein fremdes Genre nicht verleugnen wollte.
Sein Streichquartett Nr. 3 in B-Dur ging Johannes Brahms, dem unerbittlichen Selbstzweifler, im Jahr 1875 so ungewöhnlich leicht von der Hand, dass die Mentorin Clara Schumann das Andante zunächst gar für zu leichtgewichtig hielt, später aber doch hingerissen war von den folgenden Sätzen, etwa der Bratschen-Kantilene im Agitato oder den verspielten, teils auch humorvoll deutbaren Schleifen des Finales. Natürlich hatte das Alles auch Passagen von robuster Kraft. Aber es schien doch so, als wollte dieses Quartett alles Grobe, gar Grobianische sehr sorgfältig vermeiden und sich ganz der Eleganz dieses sanften Glanzes hingeben.
Bei Beethoven geht das nicht, wenngleich Teile des „Rasumowsky“-Quartetts Nr. 8 in e-Moll, des mitteleren in der Trias, in den ätherischen Sphären der späten Streichquartette gar nicht auffallen würden. Das Molto Adagio ist – von ein paar kontrastierenden Einsprengseln abgesehen – eine unendliche Melodie mit den weiten Wegen von Beethovens Modulationsschleifen, die er in seiner mittleren Zeit zu einem Stilmerkmal entwickelte. Es geht aber auch derb zu, mit Beethoven’schem Trotz und hämmerndem Insistieren, diesen unerbittlichen Repetitionen, etwa im dritten Satz mit seinem Thema à la russe.
Das Alles hatte bei Quatuor Modigliani in jedem Takt, ja in jeder Note so eine faszinierend feine Abstimmung und Ausgewogenheit, solch eine elegante Klangkultur, aber auch eine Klarsicht auf die Struktur, also französische „Clarté“ in ihrem Doppelsinn, dass man noch stundenlang hätte lauschen mögen. Aber nach manchen präzise rasenden Läufen und souverän genauen Beschleunigungen des finalen Rondos mit seiner Rückkehr vom überraschenden Dur in die Grundtonart e-Moll, kommt das Ende doch ganz schnell.
Nach einer Art Schrecksekunde schwoll der Beifall im Kammermusiksaal der Reutlinger Stadthalle doch an wie eine Woge und fand fast kein Ende mehr. Es gab Bravo-Rufe. Viele erhoben sich. Ein traumhaftes Schubert-Menuett mit doppeltem Trio fünfteilig erweitert, war der Dank dieses Ensembles von einsamer Klasse.