In den regionalen Kinos läuft der (Alkohol-)Problemfilm „22 Bahnen“ um eine grandiose Geschwister- und um ein bisschen andere Liebe
TÜBINGEN/REUTLINGEN. Heldengeschichten gibt es seit Homer. Klar, dass da seither selten an Glanz und Licht gespart, dass Schatten eher vermieden, Risse und Brüche eher gekittet wurden. Elend, Not und Tod hatten als Prüfungen zu dienen, in denen sich die ganze Größe der Hauptfigur bewähren und beweisen konnte. Aber gar zu weit weg sollten die Wirklichkeit und die Wahrscheinlichkeit nicht geraten. Glaubwürdigkeit zog doch stets gewisse Grenzen, die es nicht zu übertreten galt.

Schon Caroline Wahl wusste das wohl sehr genau, und ihr Debütroman „22 Bahnen“ war vielleicht gerade deshalb ein so ungewöhnlicher Erfolg: kein Bestseller der raffinierten, spannenden oder rührseligen Unterhaltung, sondern sehr ernste Literatur über ein sehr ernstes Thema – in leichtem, lebensnah trockenem Ton. Mia Maariel Meyers Verfilmung dieser berührenden Geschwisterliebe und der begleitenden Geschichten ist das auch gelungen. Vollkommen.
Die mathematisch hochbegabte Tilda, von Luna Wedler sehr genau und trotz aller derer Superlative sehr glaubhaft gespielt, macht nicht nur ihr Examen und besteht es mit Bravour. Sie ist auch sonst extrem gefordert. An der Supermarktkasse muss sie Geld verdienen. Vor allem aber hat sie sich um ihre kleine, vielleicht zehnjährige Schwester Ida (Zoë Baier) zu kümmern, die angesichts des familiären Elends zu verkümmern droht.

Denn die Mutter ist ein Totalausfall, eine Trinkerin (auch sehr gut in ihrer Rolle: Laura Tonke). Dazu ist sie noch verbittert und oft geradezu gehässig. Abstürze und hohle Besserungs-Gelöbnisse wechseln einander ab, wie das eben so ist bei Alkoholikern. Die besten Freundinnen Tildas sind alle weg in die weite Welt, für Freunde und Flirts gibt es weder Platz noch Zeit im eng und präzise getakteten Leben.
Exakt 22 Bahnen schwimmt Tilda, wenn sie – oft mit ihrer kleinen Schwester – ins Freibad geht. Exakt 22 Bahnen schwimmt auch der junge Russe und erfolgreiche Programmierer Viktor, mit dem sie eine tragische Geschichte verbindet. Denn sein Bruder Ivan gehörte zu engsten Freundeskreis um Tilda, als die Zeiten noch etwas besser für sie waren. Auf einer Abschiedsparty, bevor er frühmorgens mit der übrigen Familie in die russische Heimat fährt, überreden sie ihn zu Cocktails, Wein und Drogen. Es geschieht ein Unfall.

Langsam, ganz vorsichtig und sacht kommen sich Viktor (Jannis Niewöhner) und Tilda näher, erkennen einander. Ihr Professor will seine Begabteste auf ein Promotions-Stipendium nach Berlin gehen sehen. Vor allem der kleinen Schwester wegen zögert sie. Stoff genug, um die Handlungsstränge zu einem offenen, aber optimistischen Ende zusammenzuführen. Das ist handwerklich fast so perfekt wie die Heldin, dabei aber unaufdringlich gefilmt und geschnitten. Dramaturgisch ist der Film so virtuos und originell wie das Buch, in seiner Figurenzeichnung eindringlich und nie kitschig.

Bei aller Verdichtung dieser Heldin und ihrer großartigen Eigenschaften überschreiten die Regisseurin und Caroline Wahl, die am Drehbuch mitschrieb, nie die Grenze zum Übertriebenen, Märchenhaften. Alles bleibt plausibel. Das liegt auch an der großartigen Hauptdarstellerin.
Ein schöner, ernster Film ohne jedes Übergewicht.
(FSK 12)
