Mit „Patient Zero 1“ hat das letzte Stück aus der Ära des alten ITZ im neuen Tübinger Zimmertheater Premiere
TÜBINGEN. Die Triggerwarnung des Theaters vor „drastisch sexueller Sprache“ müsste zwangsläufig auch für diesen Text gelten. Das ist aber nicht das Problem der Kritik. Deren Dilemma besteht darin, keine Verrisse klassischer Art schreiben zu wollen, vor allem keine verletzenden, vernichtenden, und trotzdem klarzumachen, dass dies kein Theater mehr ist – des Textes von Marcus Peter Tesch wegen. Viele der Plätze für die Premiere von „Patient Zero 1“ im geräumigen „Löwen“ blieben am Samstagabend leer. Ein Teil der „queeren“ Szene hat ihren angestammten Spielplatz offenbar schon aufgegeben und verlassen.
Thomas Bockelmann als neuer Intendant des Zimmertheaters war angesichts seiner kurzfristigen Berufung im April natürlich gezwungen, auf den vorbereiteten Stoff der Ripberger-Intendanz zurückzugreifen, die nach den Kündigungen von Peer Mia Ripberger – Co-Intendant Dieter Ripberger war schon gut ein Jahr zuvor abgesprungen – und Teilen seines Teams nach sieben Jahren ITZ geendet hatte. Offiziell waren die angekündigten Kürzungen der städtischen Zuschüsse Grund für die Kündigungen.
Das Kürzel ITZ bedeutete „Institut für theatrale Zukunftsforschung“. Und das wiederum bedeutete, dass sich das Zimmertheater, dem im Jahr 2021 neben dem alten kleinen Kellergewölbe in der Bursagasse, mit dem „Löwen“ eine zweite, größere Spielstätte überlassen wurde, einer neuen, nun ja, „progressiven“, woken oder queeren Ästhetik zuwandte – und sich das Theater zum Treffpunkt der Szene mauserte.

Ein Trio aus Johanna Engel, Stefan Herrmann und Jel Woschni trat in dem Stück von Marcus Peter Tesch, das keines ist, als eine Art Berliner Studenten-WG in Zeitlupe auf die Bühne und deklamierte sitzend – teils in „drastisch sexueller Sprache“ – von orangenen Pop-Art-Stühlen aus und vor gegenfarbigen Kacheln (Ausstattung: Clara Rosina Straßer) eine endlose, viertelstündige Widmungs-Litanei an die Aids-Toten aus der „queeren“ und der Junkie-Szene. Afrika fand keine Erwähnung.
Magdalena Schönfeld, wie Woschni und Engel auch noch von der alten ITZ-Truppe, oblag eine Regie, der eigentlich nichts Wirkliches zu tun blieb. Schon einmal wurde sie an dieser Stelle dafür bedauert, einen Text inszenieren zu müssen, der definitiv kein Theatertext ist, sondern dürre Bekenntnis-Prosa mit poetisch-lyrischen Einsprengseln: „Muttertier“.
Marcus Peter Tesch, Jahrgang 1989, hat einen Berliner Schaubühnen-Hintergrund und bekennt sich zur „Sichtbarmachung queerer Perspektiven“, wofür ihn der Zeitgeist auch mehrfach auszeichnete. Von seinem Stück „Patient Zero 1“ lässt sich allerdings nicht einmal eine Inhaltsangabe machen – weil nichts passiert. Null. Der knallende Korken einer präparierten Prosecco-Flasche, aus der es dann Glitzerkonfetti regnet, ist die einzige Action. Dafür darf ein queerer „Italiener“ (Stefan Herrmann) vor seiner auf alt stilisierten Bar herrisch herausschreien: „Ich mach‘ euch alle fertig, ihr Wixxer!“. Was wohl denen gilt, die mit diesem Lebensstil nichts anfangen können.

Es ist auch beim Zeitsprung in eine zweite, die Corona-Pandemie, und beim Ortswechsel in eine Kneipe keine Handlung, sondern eine fragwürdige Grenzüberschreitung, wenn sich die beiden Schauspieler in Video-Einspielern, abgefilmt wie Privatpersonen, als Aids-Positive outen, die nur dank sündhaft teurer Medikamente überhaupt überleben und sogar völlig bedenkenlos ein wildes, ungeschütztes Sexualleben weiterführen können, das sonst, ohne Pharmazie, den allmählichen, zwar trostlos genau, aber nicht szenisch geschilderten Tod der Partner billigend in Kauf nehmen müsste.

Johanna Engel immerhin, sie bekennt im Video als gespielte Privatperson, die Corona-Lockdowns genutzt zu haben, um mühsam schwanger zu werden und eine traditionelle Familie mit Vater, Mutter, Kind gegründet zu haben. Zuvor durfte sie auch ihre Wut – über was? – herausbrüllen, oft in „drastisch sexueller Sprache“, die dramaturgisch absolut sinnfrei und, im Wortsinn, völlig bedeutungslos ist. Ähnlich übrigens wie dieses chorische Sprechen und Stammeln, das manchmal in chaotisches Durcheinander-Quasseln fällt und längst zum zwecklosen Stilmittel, zur hohlen Mode und Marotte verkommen ist. Die ebenso nervenden echohaften Wiederholungen – wofür? Als Bekräftigung? Rhythmisierung? – machen das nicht besser.
Hochvirtuos dekliniert sie allerdings zuvor ihre – gegendert erzählende – Suada in erster und dritter Person durch: „Ich bin kein Witz, denkt sich die Tod“, als allegorische Figur, die immer wieder an queere Türen klopft. Während schauspielerische Leistungen nicht beurteilt werden können, weil es nichts zu spielen gab, verdienen die Sprech-Leistungen des Trios doch höchstes Lob, auch wenn die Sprache – um im Jargon zu bleiben – „durchgefickt“ wird wie beim notorisch gefeierten Analsex im Darkroom, der Schwulensauna oder der „Klappe“. Auch die langen Passagen in ähnlich obszönem Englisch sind sauber akzentarm einstudiert.

Man darf Sprache – außer als Vergewaltigung – für nicht „fickbar“ halten. Und auch auf dem Theater für verteidigenswert. Hier aber wird’s Ereignis, das „Durchficken“ der Sprache.
Ein Fazit? „Patient Zero 1“, ein mühsam inszeniertes bekenntnishaftes Prosagedicht – und zwar ein abgrundtief schlechtes – mit lyrischen Versuchen und viel „drastisch sexueller Sprache“, ist zwar als Stück nicht zu empfehlen. Aber man kann es sich als Abgesang einer merkwürdigen woken Theater-Ära, als Abschied eines abgespielten, inzwischen aus der Zeit gefallenen Stils, als Requiem für das ITZ anschauen. Das würde womöglich auch dem neuen Zimmertheater aus der Patsche helfen, wenn der Besuch dieser Inszenierung noch magerer wird. Das steht zu befürchten. Zumal die queere Szene offenbar großenteils von dannen gezogen ist.
Höflicher Beifall verabschiedete die Truppe.

1 Comments
Thomas Bockelmann 28.09.2025 at 13:15:
Äußere mich als Intendant nie zu künstlerischen Aussagen in Kritiken.
Die Unterstellung aber, ich sei „gezwungen“ gewesen, „auf den vorbereiteten Stoff der Ripberger Intendanz zurückzugreifen“, ist schlicht falsch. Habe mit meinem Vorgänger nie ein Wort über PATIENT ZERO 1 gewechselt. Die Entscheidung für dieses Theaterstück – das eine gefeierte Uraufführung am Staatstheater Kassel hatte – habe ich aus Hochachtung für diesen Text gefällt. Markus Peter Tesch ist im übrigen grade zum Hausautor am Deutschen Theater in Berlin ernannt worden.
Mit sehr freundlichen Grüßen, Thomas Bockelmann

Thomas Bockelmann
28.09.2025 13:15 at 13:15
Äußere mich als Intendant nie zu künstlerischen Aussagen in Kritiken.
Die Unterstellung aber, ich sei „gezwungen“ gewesen, „auf den vorbereiteten Stoff der Ripberger Intendanz zurückzugreifen“, ist schlicht falsch. Habe mit meinem Vorgänger nie ein Wort über PATIENT ZERO 1 gewechselt. Die Entscheidung für dieses Theaterstück – das eine gefeierte Uraufführung am Staatstheater Kassel hatte – habe ich aus Hochachtung für diesen Text gefällt. Markus Peter Tesch ist im übrigen grade zum Hausautor am Deutschen Theater in Berlin ernannt worden.
Mit sehr freundlichen Grüßen, Thomas Bockelmann