Der Südwestdeutsche Kammerchor Tübinger sang sein lyrisches Open air „LebensWandel“ zwischen Platanenallee, Alter Burse und Hölderlin-Garten
TÜBINGEN. Das angekündigte bisschen Sommerregen konnte den Südwestdeutschen Kammerchor nicht schrecken. Das Ausweichquartier Uhland-Mensa blieb ungenutzt, als am späten Samstagnachmittag an die 200 Menschen zum Treffpunkt „Indianersteg“ auf die Platanenallee gekommen waren, um dort das Open-air-Konzert

durch die südliche Tübinger Altstadt zu beginnen, dem Dirigentin Judith Mohr den Titel „LebensWandel“ gegeben hatte: Chormusik a cappella mit Gedichtrezitationen, die Marcus Feuß vortrug.

Selbst für die Freiluftbedingungen, wo manche Klangnuance vom Winde verweht (und vom Lärm des gerade beendeten Triathlon-Trainings beeinträchtigt) wird, hatte Judith Mohr, Chorleitungsprofessorin an der Berliner Universität der Künste, ihr kleines und feines Ensemble sorgsam vorbereitet. Die geschulte Stimme von Marcus Feuß wusste sich auch ziemlich gut zu behaupten, obwohl er dankenswerterweise mutig auf ein Mikro verzichtete. Er setzte mit Wilhelm Busch den heiteren Grundton an den Beginn für eine dann doch eher besinnlich-romantische Gedichtauswahl.
Dass Frauen unter den Komponisten vertreten waren und Modernes wie Abgelegeneres und auch Volkstümliches, verfeinerte das besondere Profil noch. Mit dem Geburts(tags)wunsch „Vivat, crescat, floreat“ der 1981 geborenen Nana Forte mit frischer Rhythmik und suggestivem Orgelpunkt begann die Reihe der Chorstücke auf dem unscheinbaren Sockel, der von der einstigen – potthässlichen – Konzertmuschel übriggeblieben ist.

Über Becky McGlades unverkennbar keltisch und christlich getöntes „Come, My Way, My Truth, My Life“ legte sich der auf den Sonntag einstimmende Klang der Stiftskirchenglocken. Kurt Tucholskys Witz „An das Baby“ holte die Feierlichkeit wieder auf den Boden des Irdischen. Nach einem Arrangement von Billy Joels Wiegenlied „Lullabye“ ging es herüber auf die Treppe zwischen Brücke und Taubenhaus, wo Hölderlin mit dem dem „Jüngling“ aus seiner Frankfurter Zeit schon in hohem hymnischen Ton zwar, doch im Gestus aufmüpfig-rebellische Frische feierte – und die freie Natur.
An der akustisch heikelsten Stelle erklangen dann noch die sehr hübschen Volkslied-Variationen von Oliver Gies (* 1973): „Die Gedanken sind frei“. Als Kontrast zu den markanten Rhythmen der Musik hob Marcus Feuß dann zur sanften Melodik von Rilkes Sprache an: „Du musst das Leben nicht verstehen“. Fast hätte sich die große Gruppe im samstäglichen Gewusel von Eberhardsbrücke und Neckargasse verlieren können, aber gleich nebenan, in der Clinicumsgasse an der Treppe zur Stiftskirche hinauf, war es sofort wohltuend ruhig.

Mit “Willkommen und Abschied“ durfte ein Goethe nicht fehlen, der das von Ralph Hoffmann (*1969) arrangierte Volkslied „Wach auf, meins Herzens Schöne“ aus dem 16. Jahrhundert zusammen mit Joseph von Eichendorffs „Frischer Fahrt“ umrahmte. Den Weg zur Alten Burse begleiteten Fassungen norwegischer Volkslieder von Henning Sommers sowie Grete Pedersens „Hochzeitsmarsch“ und Ulla Hahns „Bildlich gesprochen“, ihr leicht toxisches Liebesgedicht von 1981.

Auf der Treppe zur Alten Burse, seinerzeit das Clinicum, in dem der Professor Autenrieth den zusammengebrochenen Hölderlin vergeblich zu behandeln versuchte, erklang Harald Genzmers Chor „Hälfte des Lebens“ über die so düstere wie formvollendete Lyrik zur trostlosen Lebenslage des Umnachteten. Das gesprochene Dichterwort war mit Hermann Hesse, dem Heckenhauer-Lehrling, mit Günther Bruno Fuchs und mit Friedrich Rückert („Mit vierzig Jahren“) vertreten, die weibliche Tonkunst mit Clara Schumanns wunderbarem Chorsatz „Vorwärts“.

Der geplante Weg in den Hölderlin-Garten war verschlossen, so dauerte es, bis die Zuhörer jene Treppe hinabgeführt waren, von der aus die Männer (die Chorfrauen standen parterre) Hugo Wolfs getragene und subtil farbschillernde „Resignation“ vortrugen. Nach dem „Abend“ von Andreas Gryphius folgte zunächst Felix Mendelssohn Bartholdys „Ruhetal“ aus seinen „Liedern im Freien zu singen“ (!) opus 59, dann die von Traueranzeigen inflationär verwendete „Mondnacht“ („…als flöge sie nach Haus.“) Joseph von Eichendorffs, Genzmers klangfeiner „Lebenslauf“ aus seinen „Hölderlin-Chören“ wiederum als Musik sowie schließlich das „Reiseziel“ von Friedrich Rückert.

Selbst diesen stimmlich so exzellent geschulten Chor merkte man an ein paar wenigen Stellen in ein paar Nuancen an, dass Singen a cappella im Freien, bei dem das Hören der anderen Stimmen so eminent wichtig ist, doch eine ganz besondere Herausforderung darstellt, nicht nur des Regens wegen (der freilich auch rechtzeitig die lärmenden Stocherkähne stilllegte).
Für den langen und begeisterten Beifall bedankte sich der Südwestdeutsche Kammerchor mit dem wiegenden Kinder-Einschlaflied „Die Vögelein…“.
