Ariane Matiakh und die Württembergische Philharmonie Reutlingen eröffneten die Saison in der Stadthalle mit dem Geigensolisten Kristóf Baráti
REUTLINGEN. Die Württembergischen Philharmoniker sind am Montagabend in einem nicht ganz ausverkauften Großen Saal der Reutlinger Stadthalle in die neue Spielzeit gestartet. Die von Chefdirigentin Ariane Matiakh ausgesuchten Werke hatten wieder einen Schwerpunkt: zum Russischen mit Rimski-Korsakow und Chatchaturian kam als französischer Tupfer mit Éric Tanguy ein Zeitgenosse. Hinzu trat als großartiger Violinsolist der Ungar Kristóf Baráti, wobei der glanzvolle Solopart von Konzertmeister Timo de Leo in der „Scheherazade“ unbedingt besondere Erwähnung finden muss.
Der 1968 im normannischen Caen geborene Éric Tanguy mag hierzulande weniger bekannt sein. Im Nachbarland gehört er zur ersten Komponistengarde. Dem Freund und Förderer Henri Dutilleux (1916 bis 2013) hat er in memoriam ein sinfonisches „Affettuoso“ gewidmet, mit dem das Konzert begann. Wie bei seinem Mentor, der sich der Tradition von Ravel und Debussy verbunden sah, steht bei Tanguy nicht etwa atonale serielle Struktur, sondern die Expressivität facettenreicher Klangfarben mit hochdissonant angeschärfter, aber tonal gebundener Harmonik im Vordergrund.
Die verfeinerte Instrumentierung – sie sollte in Rimski-Korsakows bilderreicher Suite ihre noch breiter besetzte Fortsetzung finden – dieser liebevoll und dankbar trauernden Elegie kommt der Spielfreude jedes Sinfonieorchesters entgegen. Neben der klanglichen fordert die rhythmische Vielfalt aber auch vom Dirigat große Genauigkeit. Bei Ariane Matiakh war das in besten Händen und bot nicht nur für affektive Ausdruckskraft, sondern auch für Transparenz Gewähr, die französische Clarté. Zum großen Beifall rief die Dirigentin den angereisten Komponisten für eine freundschaftliche Umarmung auf die Bühne.
Zwar ist Kristóf Baráti Ungarn und der reichen musikalischen Tradition seines Heimatlandes – er wuchs in Venezuela auf – eng verbunden, aber sein Violinspiel zeigt viel eher jene luzide französische Clarté als die satte Klangfärbung und Wildheit, die man früher feurigen und schmachtenden Zigeunergeigern zuschrieb. An einer weiteren musikalischen Perspektive sollte er das zeigen: an der volkstümlich grundierten Tonsprache des Violinkonzerts von Chatschaturian.
Im Sowjetreich Stalins, dem unter seine Knute gezwungenen Vielvölkerstaat, musste nicht nur der in Georgien aufgewachsene Armenier Aram Chatschaturian (1903 bis 1978) Zugeständnisse an die rigiden Forderungen des Diktators und der kommunistischen Partei machen. „Formalismus“ galt als schlimmster, mit völligem Bann bis hin zu Haft und Todesgefahr bedrohter Vorwurf. Die großen Komponisten mussten einem erzwungenen Primat folkloristischer Traditionen folgen, ohne dabei der Banalität anheimzufallen.
Sein Violinkonzert freilich, klassisch dreisätzig, schuf Chatschaturian im Jahr 1940 nicht nur auf tief erlebten Wurzeln in armenischer, aserbaidschanischer und georgischer Volksmusik an Tänzen und Liedern, sondern auch aus einer plötzlichen Inspiration, einer „Welle des Glücks“ heraus und widmete das ausgesprochen geigerische und sehr zugängliche Werk David Oistrach.
Der starke und tragende Ton des weltweit mit Preisen überhäuften Krístof Baráti und seiner Stradivari „Lady Harmsworth“, die ihm die Stradivarius Society of Chicago zur Verfügung stellt, überraschte dabei allerdings doch. Ungemein diszipliniert und präzise spielte er die mit rasenden Läufen und tänzerischer Motorik ebenso wie mit sanglicher Melodik geschmückten Sätze: Ein edel transparenter Ausdruck von geradezu aristokratischer Noblesse, im Publikum zunächst vielleicht als eher sachlich, ja kühl empfunden, jedenfalls ohne zirzensische Oberflächlichkeit und schmelzende Agogik oder Nachdrücken, offenbarte doch eine tiefe Musikalität und Klangkraft.
Mit großem Beifall gefeiert, spielte Kristóf Baráti als Zugabe in ähnlich tandfreiem Stil das Largo aus Bachs Solosonate C-Dur.
Die Sinfonische Suite „Scheherazade“ gehört nicht nur ihrer märchenhaften Thematik aus „Tausendundeiner Nacht“ und ihrer ungemein bildhaften, fast malerischen Ausdruckskraft wegen zu den berühmtesten Werken von Nikolai Rimski-Korsakow (1844 bis1908). Sein St. Petersburger „Mächtiges Häuflein“ mit Mussorgsky und Borodin und anderen Kollegen hatte sich nicht nur eine dezidiert anti-westliche, vielleicht sogar eine anti-deutsche Agenda gegeben, sondern wollte auch das Erbe der nationalrussischen Volksmusik heben und pflegen.
Dass Rimski-Korsakow schon früh als begnadeter Instrumentierer galt, der neben der Balance eben auch für einen stetigen Wechsel der Gruppen und herausgehobene Solopassagen Gewähr bietet, macht die „Scheherazade“ zu einem Paradestück für jedes Orchesters. Die Kontraste, all die Poesie und das Temperament ausgewogen zum Klingen zu bringen, die Rhythmen auch in ausgeprägter Agogik präzise abzustimmen und transparent zu machen, das war bei Ariane Matiakh bestens aufgehoben. Diese bildhaften Konturen zwischen absoluter und geradezu malender Programm-Musik gelangen immer wieder unerhört plastisch. Manchmal mag das Tutti vielleicht überlaut angekommen sein, die Pianissimi konnten gar nicht zart genug verzaubern.
heft – in Farbe. Repro: mab
Eine besondere Rolle unter den Soli spielt die Violine, deren Part über alle vier sinfonischen Sätze, oft im Zusammenspiel mit der Harfe, fast einem Solokonzert gleichkommt. Konzertmeister Timo de Leo hatte da einen ganz großartigen Auftritt. Dass ihm direkt vor Schluß mal kurz das Flageolett entglitt und brach, machte die überragende Leistung eigentlich nur noch klarer. Aber auch die Soli der Holzbläser, von Piccolo über Flöte, die Klarinette, Oboe und das Fagott alle großzügig bedient, auch Horn, Blech und Percussion, nicht zu vergessen den Cellisten und die Bratschen als Gruppe, machten die Suite unter einer ebenso sorgfältigen wie mitreißenden Leitung zu einem Fest fürs gesamte Orchester.
Der Applaus, der nach dem sacht entschwebenden Schluss nicht sofort als Jubel losbrach, schwoll immer wieder stürmisch an, schon weil Ariane Matiakh einfach lange brauchte, um all die zahllosen Einzelleistungen mit allem Recht aufzurufen, hervorzuheben und angemessen zu würdigen.
Ein wahrhaft glänzender Saisonbeginn.