Konzertlesung: Mit Mechthild Großmann und dem Ensemble Horizons endeten die Tübinger Schlosshofkonzerte – wohl für immer
TÜBINGEN. Zum Abschluss noch einmal volles Haus, voller Hof: Mindestens 600 Besucher lauschten am Sonntagabend im Innenhof des Tübinger Schlosses den „Geisterballaden und Liebesliedern“, mit denen die sommerliche Open-air-Reihe der Stadt (der klammen kommunalen Kassen wegen) schon nach der vierten Auflage spektakulär, aber wohl endgültig endete.
„Tatort“-Staatsanwältin Mechthild Großmann mit ihrer phänomenalen Stimme als Rezitatorin und das gut 30 Stimmen starke Tübinger Ensemble Horizons von Matthias Klosinski mit seinem edlen Chorklang waren die Stars. Ein gnädig gestimmter Himmel gewährte bei erträglicher Temperatur eine großzügige Regenpause vom nasskalten Sommer. Über den Ort des schaurig schönen Gruselgeschehens zogen immer wieder Scharen krächzender Raben.

Fotos: Martin Bernklau
Mit ihrer Rolle als kettenrauchende Staatsanwältin Klemm in den schrägen Münsteraner „Tatort“-Krimis wurde sie populär. Mechthild Großmann muss immer wieder versichern, dass diese bis in dröhnende Basslagen reichende Stimme nicht zahllosen filterlosen Zigaretten und viel Whiskey on the rocks zu verdanken ist, sondern ein Geschenk der Natur. Die tatsächlich in Münster geborene Schauspielerin hat noch ganz andere Gaben mitbekommen: Unter anderem spielte sie bei Zadek oder Peymann, zudem war sie lange Jahre das einzige Mitglied der legendären Wuppertaler Tanztheater-Truppe von Pina Bausch, das keine Ballettschule besucht hatte. Wim Wenders hat das in einem Film verewigt.

Das literarisch und musikalisch so erlesene Programm hatte über die grandiose Sprecherin hinaus ein paar Specials. Natürlich ging es auch um Tübingen (wobei Hölderlin fehlte): Vor allem Ludwig Uhland, aber auch Friedrich Silcher und Josephine Lang gehören zur Stadt. Mit dem „Hochzeitslied“ der an ihrer Entfaltung gehinderten Komponistin und Köstlin-Gattin sowie einem Satz der Mendelssohn-Schwester Fanny Hensel gab es einen Frauen-Block, zuvor erklang ein Frauenchor von Emilie Zumsteeg. Das musikalische Finale mit entlegeneren, auch zeitgenössischen Fundstücken der Chorliteratur, war vor allem William Shakespeare gewidmet.
Dass der Horror nicht in Hollywood erfunden wurde, machte die Gedichtauswahl sehr deutlich. Eher die Romantik war’s. Dazu klassische Fantasy-Vorläufer von Goethe und Schiller bis zu Ludwig Hölty. Wenn sie Lyrik hinterlassen hätte, wäre gewiss auch Frankenstein-Erfinderin Mary Shelley vertreten gewesen, die freie, früh-feministische Gefährtin der Dichter Percy Shelley und Lord Byron.
Schon mit Robert Schumanns „Ungewitter“ nach Chamisso führte der Chor seine delikate Klangkunst, das ganze Spektrum an Dynamik und Ausdruckskraft sowie seine subtile Sprachbildung vor. Im „Alten Barbarossa“ des Tübinger Universitätsmusikdirektors Friedrich Silcher über den Text von Rückert ließen die – erstaunlich vielen – Männer den Kaiser im Kyffhäuser geisterhaft seiner Wiederkunft harren und schlossen mit einem traumhaft leisen und lang gehaltenen Dur-Akkord. Die Frauen standen dem nicht nach mit ihrem Grablied der „Sonnenjungfrau“ Cora (nach Kotzebue), das die Tochter des Stuttgarter Hofmusicus Zumsteeg so fein arrangiert hat.
„Darthulas Grabgesang“ von Brahms schloss das beeindruckende Chor-Entrée ab. Mit Eichendorffs „Altem Garten“ begann Mechthild Großmann ihre Lyrik-Lesung noch in zurückhaltendem, aber hochmusikalischem Erzählton. Spätestens bei der Ballade „Des Sängers Fluch“ von Ludwig Uhland gewann ihr wortgestaltendes Repertoire dann die volle dramatische Tiefe und Breite. Diese Vielfalt zwischen Sanglichkeit, schneidendem Ton, fast Schreien, aber auch Flüstern bewährte sich selbst bei „Edward“, der trotz suggestiver Wiederholungen doch zeigt, dass Herder kein allzu begnadeter Lyriker war.
Im Gegensatz zu Annette von Droste-Hülshoff und ihrem „Knaben im Moor“ oder den Gedichten aus dem Chorliederbuch nach Eduard Mörike. Wie sehr sich große Dichtung und großartige Musik gegenseitig verstärken, zeigten diese subtilen und hochdramatischen Vertonungen Hugo Distlers („Die traurige Krönung“, „Der Feuerreiter“) in ihrer hochdissonanten Tonalität. Vielleicht war die Rekonstruktion eines „Erlkönig“-Fragments von Beethoven durch Jaakko Mäntyijärvi (*1963) ein Hinweis, dass dem Klassiker Schuberts unerreichbare Fassung des unvergleichlichen Goethe-Gedichts, sein Opus 1, in Wien womöglich zu Ohren gekommen war und er von einer Vollendung absah, wer weiß…

Im zweiten Teil gewann der Chorklang von Matthias Klosinskis Ensemble Horizons vielleicht noch dadurch merklich, dass die Verstärker offenbar bis auf ein Minimum heruntergeregelt wurden. Wirkliche Balance entsteht nur, wenn die Klangquelle nicht im Raum aufgespalten ist. Neben den schon erwähnten Frauen-Werken gab es noch Schumann, Schubert und Reger auf der Musikseite – immer mal wieder als reiner Frauen- oder Männerchor. Die von Mechthild Großmann so plastisch gestalteten Texte boten neben Goethes „Fischer“ die Entdeckung eines Ludwig Hölty (1748 bis 1776) mit seiner ebenso witzigen wie gespenstischen „Nonne“-Moritat.
Der war ein begnadeter Lyriker. Hofmannsthal und auch Fontane waren das weniger, wenngleich die Wiederbegegnung mit der einstürzenden „Brücke am Tay“ in Gestalt der hochdramatischen Großmann-Stimme doch ihre Wirkung nicht verfehlt. Im abschließenden „englischen“ Block des Chors erweiterten sich bei Shakespeares „Fairy Song“ von Iris Szeghy (*1956) die Klangmittel bis zum rhythmischen Sprechen, Flüstern, Schreien, zum Glissando – und bei Mäntyijärvi’s Abschluss schließlich sogar bis zum Stampfen. Echt hörenswert auch die Sätze von Frank Martin und den Romantikern Clara Angela Macirone oder Robert Luca Pearsall.

Ein hingerissenes Publikum applaudierte sich noch die Zugabe von Max Regers „Die Nacht ist kommen“ herbei, obwohl die Schlafstunde der schützenswerten Schlossfledermäuse, die jahrzehntelang solche Nutzung des Schlosshofs verhindert hatten, vielleicht schon angebrochen war.
