Szenen in Tönen: Zum Erntedank widmeten sich Ingo Bredenbach und die Camerata viva in der Motette mit Mendelssohn und Beethoven der Natur
TÜBINGEN. Eigentlich soll die Motette ja Gottesdienst sein. Am Vorabend des Erntedankfestes fasste Stiftskirchenkantor Ingo Bredenbach das aber ganz frei und weit auf. Mit der Camerata viva wurde es sinfonisch, ging es im Geiste hinaus in Gottes schöne Natur. Felix Mendelssohns „Hebriden“-Ouvertüre ist schon nah an Landschaftsmalerei in Tönen. Und Ludwig van Beethovens Sechste Sinfonie, die „Pastorale“, gilt als ein Paradebeispiel für Programmmusik.

Dabei wollte Beethoven selber dieser allzu direkten bildlichen Deutung ein wenig vorbauen mit den Worten, die dem Konzert als Motto voranstanden: „Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“. Schade übrigens, dass zum Erntedank selbst in katholischen Kirchen kaum noch die Gaben der Natur vor dem Altar dargebracht und prächtig drapiert werden. Aber inzwischen kommen Nahrung und Frucht ja nicht mehr vom Feld aus den Händen der Bauern, sondern aus dem Bioladen, mit Brief und Siegel. Die Stiftskirche war gut besetzt an diesem Abend eines sonnig-warmen Herbstsamstages.
Bei Felix Mendelssohn Bartholdy (1810 bis 1847) hingegen war das anders, andersherum als beim naturliebenden Kopfmenschen Beethoven. Nach seiner Englandreise und einem Besuch der Fingalshöhle auf der Hebrideninsel Staffa vor der rauen Küste Schottlands entstanden, kam ihm das Konzertstück in der ersten Fassung zu „kontrapunktisch“, zu absolut musikalisch vor. Er überarbeitete sein Reisebild in Tönen nach der Erstaufführung ausgerechnet in Rom ein weiteres Mal, damit es mehr nach „Tran und Möwen“ schmecke.
Genau dieses Streben nach sinnlicher Wahrnehmung, nach plastischer Bildhaftigkeit machte sich Ingo Bredenbach in beiden Werken zueigen. Klar, dass das dann pure Romantik werden musste, mit viel agogischem Ausdruck, mit scharf gezeichneten Kontrasten, mit großem Ausbruch und leiser Betrachtung, mit Warten und Staunen, Bremsen und Beschleunigen, mit der Aufteilung in einzelne Szenen und Bilder. Beim so formvollendet klassischen Romantiker Mendelssohn war dabei tatsächlich noch mehr Rücksicht auf eine große musikalische Linie zu spüren. Und auch der geschmeidigen Eleganz im Ton gab man mehr Raum als danach in der Pastorale.
Beethovens fünf Sätze mit ihren bildhaften Bezeichnungen – „Angenehme, heitere Empfindungen…“ über „Donner, Sturm“ bis zum pastoralen „Hirtengesang“ – gehen da weiter und wurden in dieser Deutung tatsächlich zu einer Art musikalischen Galerie. Das Szenische spiegelte sich wider in den sorgfältig herausgehobenen Soli für eigentlich alle Instrumente oder Gruppen. Das war ein Fest fürs Orchester. Und der Camerata viva (Konzertmeisterin: Magdalene Kautter) merkte man das an in ihrer begeisterten und hinreißenden Spielfreude. Wobei den Profis dabei kein Gaul durchgeht, sondern Aufmerksamkeit und Präzision besonders hoch sind.

Schon bei Mendelssohn fiel auf, dass die Pauke nicht nur grummelte und grollte, sondern donnerte, ja knallte. So ist das selten zu hören. In Beethovens „Szene am Bach“, dem zweiten Satz konnte die Nachtigall flöten, eine Lerche tirillieren, und die Kuckucks-Quart der Klarinette fiel viel deutlicher ins Ohr als sonst. Nachahmung der Natur bis zur echten Lautmalerei. Beim „Lustigen Zusammensein“, formal einem Menuett mit Trio, sah man den robusten Zweiviertel-Tanz der Landleute vor sich. Im vierten Teil durfte in aller Disziplin – es gab nur ganz wenige Ausnahmen – der Sturm mit Blitz und Donner losbrechen.
Der namensgebende „Hirtengesang. Wohltätige mit Dank an die Gottheit verbundene Gefühle nach dem Sturm“ nahm in Takt, Rhythmus, Harmonie und Instrumentation viele der pastoralen Traditionen des Genres auf. Dass die Sinfonie durch die liturgischen Einschübe und das Gemeindelied dreimal unterbrochen wurde, war halb so schlimm, weil Ingo Bredenbach und die Camerata viva die Zuhörer ganz schnell wieder in den Bann dieser so plastisch und bildstark gestalteten Musik zogen, die dem szenischen Detail durchaus Vorrang gab, dem Melos und der Linie gegenüber.

Nach der erbetenen Stille erhob sich nach angemessenem Innehalten doch begeisterter Beifall.

Fotos: Martin Bernklau
