Musik

Motette – Bachs Parodien

Zum Nikolausabend stellte Stiftskirchenkantor Ingo Bredenbach Bachs Reformations-Kantate „Gott der Herr ist Sonn und Schild“ der kleinen Bach-Messe G-Dur gegenüber

TÜBINGEN. Die Motette in der Tübinger Stiftskirche bot am Samstagabend zum Nikolaustag eine seltene Gelegenheit: Bachs sogenanntes Parodieverfahren in einem einzigen Konzert zu erleben. Ingo Bredenbach hatte lauter Spezialisten versammelt, die vibratolos nach dem historischen, „historisch informierten“ Gusto musizierten: sein ensemble vocale piccolo, vier ausgezeichnete Gesangssolisten und das Barockensemble Capella laurentiana um Continuo-Organist Carsten Lorenz. Der Reformationskantate „Gott der Herr ist Sonn und Schild“ folgte die kleine Messe G-Dur (BWV 236), die früheste von fünf erhaltenen Johann Sebastian Bachs (1733).

Ingo Bredenbach mit dem ersten Hornisten und dem Primgeiger der Capella Lauretiana. Foto: Martin Bernklau

Unter Parodie versteht sich heutzutage eher was Komisches. Bei Johann Sebastian Bach bedeutet der Begriff eine besondere Arbeitsweise, die im Barock üblich war, wo Bearbeitungen auch unter Komponisten gegenseitige Wertschätzung, nicht Plagiat bedeuteten: die Übernahme musikalischer Sätze in andere thematische und textliche Zusammenhänge. „Jauchzet, frohlocket!“ beispielsweise, der berühmte Eingangschor des Weihnachtsoratoriums, stammt ursprünglich aus seiner ein Jahr zuvor zum Geburtstag der sächsischen Kurfürstin anno 1733 komponierten weltlichen Glückwunschkantate „Tönet, ihr Pauken!“.

Der Thomaskantor, der in Leipzig fünf komplette kirchliche Kantaten-Jahrgänge komponierte (nur knapp 200 davon sind erhalten geblieben), war auch ein Meister der Bearbeitung. Die Werke und Sätze wurden immer wieder, flott und freihändig, aber stets sinnfällig, den wochenaktuellen Umständen angepasst: teils an ganz Banales, etwa daran, welche Musiker und Sänger ihm mit welchen Qualitäten ihm in der Thomas- oder Nikolai-Kirche zur Verfügung standen. Dr. Ingo Bredenbach hat seine Dissertation über Bachs Praxis als Kapellmeister und Komponist, „als Lernender und Lehrender“ des Clavierunterrichts verfasst und im vergangenen Jahr als Buch veröffentlicht. Fachmann also auch theoretisch für das Sujet.

Die geschmeidigen Vokalsolisten Lydia Eller (Sopran, vorn) und Lucian Eller (Bass, links) beim Duett „Gott, ach Gott“ aus der Kantate. Foto: Martin Bernklau

Für den Protestanten Bach, den tiefgläubigen Theologen und „fünften Evangelisten“, war die Kantate auch sein kirchenmusikalisches Experimentierfeld. Allwöchentlich passte er sich und seine Musik der theologischen Bedeutung des jeweiligen Sonntags an, brachte Varianten, Besonderheiten und Neuerungen ein. Der Kantate „Gott der Herr ist Sonn und Schild“ (BWV 79) zum Reformationsfest anno 1725 beispielsweise stellte er eine ungewöhnlich lange Sinfonia-Einleitung voran, in der zwei Themen, darunter das einprägsame Horn-Thema, für die Chorfuge und den zentralen Choral „Nun danket alle Gott“ vorgestellt werden.

Der großartige Altus Jan Jerlitscka (rechts) bei seiner Eingangsarie zur Kantate „Gott ist unsere Sonn und Schild“.
Foto: Martin Bernklau

Große, festliche Besetzung mit Pauken und zwei Hörnern. Traversflöten, wahrscheinlich parallel geführt, „colla parte“, oder an diesem Abend dem Oboen-Duo zugewiesen, vermisste man nicht im Klang. Dafür war die Continuo-Gruppe mit einem Fagott verstärkt. Neben dem exquisiten Barockensemble, jede Stimme solistisch besetzt, begleitete ein nicht minder feines Vokalsolisten-Quartett den Kammerchor ensemble vocale piccolo. Allen voran der famose Altus Jan Jerlitschka, die Sopranistin Lydia Eller, mit sanft mezzofarbener Stimme, der Bassbariton Lucian Eller aus der Stuttgarter Hymnus-Schule und ein Daniel Tepper, Böblinger Bezirkskantor, der seine Tenorstimme ganz ins lyrisch Weiche zurücknahm.

Daniel Tepper als lyrisch weicher Tenor bei seiner herrlichen „Quoniam“-Arie aus Bachs G-Dur-Messe, begleitet von einer geschmeidig singenden Solo-Oboe (im rechten Hintergrund). Foto: Martin Bernklau

Weil die musikalische Qualität aller Beteiligten so makellos hoch war, beschreibt man vielleicht am besten den Ansatz, den Instrumentalisten, Sänger und Vokalsolisten in je eigener individueller Form teilten, sich bis in Klangfarbe und Artikulation einander anpassten. Ingo Bredenbach wollte offenbar eine flächige, vibratolose Variante dieses rhetorischen Schwer-Leicht-Klangs, der Impulse federnd weiterführt. Sein präzises Dirigat zeigte allerdings so klare Kante, dass solche Leichtigkeit eine Spur eckiger geriet. Das betraf vor allem den hochversierten Chor. In den Arien, bei denen er seinen Spitzenmusikern völlig freie Hand gab und aufs Taktgeben teils ganz verzichtete, kam der Ausdruck dieser schwingenden Leichtigkeit zuweilen deutlich näher. Das ist geschultem musikalischen Instinkt zu verdanken, wie winzige unwillkürliche Anflüge des (hier gemiedenen) Vibratos auch.

Das wird inkauf genommen: Der Streicherton wirkt ohne Vibrato zuweilen schon schmucklos, offen, fast nackt. Eher sachlich und trocken klingt auch der Chor an Stellen, wo neben Präzision auch mehr warmer Wohllaut und aufblühender Schmelz einfließen könnten. Vokalsolisten können etwas leichter in weiteren Bögen phrasieren, was in Kantate und Kurz-Messe – die nach protestantischem Usus der Zeit nur aus Kyrie und Gloria bestand – alle Vier auch in ganz ähnlicher Weise zur Gestaltung nutzten. Dieser unwillkürliche Resthauch von Vibrato hält sich, selbst wenn sie darauf verzichten sollen, bei Vokalsolisten am längsten. Es stört nicht.

Bach hat den Eingangschor der Kantate als Kopfsatz des „Gloria“ in der Messe wiederverwertet. Die Altarie recyclete er für den Tenor, das Duett „Gott, ach Gott“ für Sopran und Alt (statt Bass). Keinen der drei Sätze würden die Hörer als heterogen wahrnehmen, wüssten sie nicht, dass es, mit leichten Anpassungen, eigentlich Fremdmaterial ist.

Weil die Motette sich als musikalische Liturgie versteht: Sehr schön nebenbei, wie Ingo Bredenbach an der Orgel das adventliche Gemeindelied „Nun komm, der Heiden Heiland“ mit dem Bach’schen Choralvorspiel einleitete, das Dinu Lipatti in der Klavierversion berühmt gemacht hat. Diese suggestive Verdichtung geht natürlich auf der Orgel nicht. Dafür lässt sich versiert und brillant und registrieren.

Nach langer, wohltuender, wunderbarer Stille – wie erbeten – ein noch viel längerer, jubelnder Applaus in der sehr gut besetzten Stiftskirche für die Musiker um Ingo Bredenbach. Fotos: Martin Bernklau

Die Besucher waren tief beeindruckt von der durchweg hochklassigen Deutung Bach’scher Kirchenmusik als Gegenüberstellung und Beispiel seines Parodieverfahrens. Die lange Stille war der angemessene Ausdruck dafür, bevor anhaltend jubelnder Applaus sich Bahn brach.

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