Musik

Messiaen – Mystik und Magie

Andreas Grau und Götz Schumacher zelebrierten in der Motette zur Osternacht Olivier Messiaens „Visions de l‘ Amen“

TÜBINGEN. Es ist die heiligste Nacht der Christen. Und in der Tübinger Stiftskirche begann sie mit einem Wunder: In der Motette vom Karsamstag widmete sich das Pianoduo Andreas Grau & Götz Schumacher an zwei klangmächtigen Bösendorfer-Flügeln unter dem Titel „Passion und Paradies“ musikalischen Visionen von Olivier Messiaen und Heinrich Schütz, dessen „Sieben Worte Jesu am Kreuz“ György Kurtág für Klavier zu vier Händen auf einen eher kargen Kern konzentriert hat.

Zwischen den beiden Bösendorfer-Flügeln von Andreas Grau (vorn) und Götz Schumacher und der ersten Hörer-Reihe war etwas zusätzlicher Abstand geschaffen worden. Fotos: Martin Bernklau

Von einem zweiten herbeigeschafften Instrument und ein paar Metern freigeräumtem Platz bis zur ersten Reihe abgesehen sprengte das den Rahmen einer ganz normalen liturgischen Motette in einer besonders gut besuchten Stiftskirche eigentlich nicht. Aber es wurde eine Sternstunde von tiefster mystischer Musik und höchster konzertanter Klasse zugleich. Vor allem durch die Magie dieses frühen Schlüsselwerks von Messiaen, der in der Stiftskirche schon immer eine besondere Heimat hatte: „Visions de l‘ Amen“.

Der 1926 im rumänischen Banat in eine ungarisch-jüdische Familie hineingeborene György Kurtág war in Paris zeitweise Schüler von Olivier Messiaen, der nicht nur einer der wichtigsten und einflussreichsten Komponisten der Moderne, sondern über Frankreich hinaus auch so etwas wie der Inbegriff eines tief gläubigen katholischen Musikers ist. (Herausragende Pianisten waren sie übrigens beide.) Heinrich Schütz wiederum bildet mit Bach gewissermaßen die Eckpfeiler der deutschen protestantischen Barockmusik. Bezüge zuhauf.

Sieben Worte, sieben Visionen. Messiaen war wie Bach ein Zahlenmystiker. Kurtág dürfte sich bei den Analyse-Kursen am Pariser Conservatoire auch diese Neigung des Meisters ein wenig angeeignet haben. Die Transkription der „Sieben Worte“ sind ein kleineres Kurtág-Werk. Aber man darf davon ausgehen, dass er es auch als spezifische Schütz-Studie verstanden hat, der mitten im Dreißigjährigen Krieg Monteverdis Monodie – und damit Dur-Moll-Tonalität wie den melodischen Ausdruckswillen von Affekten – in den Norden brachte, ohne das Handwerk kontrapunktischer Vielstimmigkeit darüber zu vernachlässigen.

Genau diese Dualität arbeiteten die beiden Pianisten, am linken Flügel noch nebeneinander sitzend, mit schönen Gewichtungen und – bei aller Schlichtheit – mit viel Klangsinn sehr fein heraus. In absoluter Musik wurden die letzten Worte des am Kreuz sterbenden Jesus ganz plastisch und ergreifend ausdrucksstark. Aber es sollte erst ein Vorspiel sein zu etwas noch Größerem.

Olivier Messiaen schuf seinen siebenteiligen Klavierzyklus von monumentalen Amen-Visionen über die Schöpfung, die Sterne und Planeten, den Todeskampf Jesu, die Hoffnung, über Engel, Heilige und den Vogelgesang, das Gericht und die Verherrlichung oder Vollendung (Consommation) noch mitten im Weltkrieg – und führte es dann mit Yvonne Loriod, seiner späteren zweiten Frau, zu den Darmstädter Ferienkursen 1949 übrigens erstmals in Deutschland auf.

Die „Visions de l‘ Amen“ sind ein Kosmos für sich – wie Messiaen selber ein Kosmos weit über die Musik hinaus ist – nicht nur zutiefst religiös, sondern auch literarisch hochgebildet, als Synästhet mit der Fähigkeit begabt, Klänge zu sehen, ein Ornithologe und Naturforscher, der weltweit Vogelstimmen sammelte und zahllose selber zu imitieren und als Musik zu notieren wusste. Musikalisch wurzelte er im gregorianischen Choral oder der Vokalpolyphonie ebenso wie in der strengen Zwölftontechnik und galt als Pionier der seriellen Musik. Er war nicht nur ein Pianist von Rang, sondern eben auch Organist und Improvisator. Als Rhythmiker fühlte er sich zu wenig erkannt.

Nie dogmatisch, etwa auch im Gebrauch von tonaler Harmonik, zeichnet ihn vielleicht die Bandbreite seiner Schüler am klarsten aus – von Mikis Theodorakis über Pierre Boulez bis zu Karlheinz Stockhausen. Die traditionelle wie die eigene Figurenlehre gab er weiter. Diatonik, Synkopen, Gegenrhythmen. Natürlich ist das „Amen de l’agonie de Jésus“ geprägt vom schmerzensreichen Tritonus, scharfer Chromatik, Kreuzfiguren und von Clustern als Ausdruck letzten Todeskampfes oder dem Ersterben in Pianissimo oder Pause, in Stille. Die Natur zeigt sich melodisch in schönstem Gesang, ob Vögel oder Engel, in Glissandi, in Dur und Moll, Licht und Dunkel, Chaos und Ordnung; hymnische Kantilenen und rasende Läufe; das Gericht in Peitschenhieben, gegenläufigen Schlägen. Kontur und Plastizität, wohin man hört.

In engstem Blickkontakt: die beiden Pianisten. Foto: Martin Bernklau

Die Musiker, die das ganze gigantische Monument übrigens auswendig spielten, wussten den klanglichen Umfang der beiden Bösendorfers zu nutzen, Andreas Grau im eher oberen, figurativen Part (der Partnerin Yvonne Loriod zugedacht war), Götz Schumacher eher in der tieferen, zuweilen generalbassmäßig fundierenden Lage, wo die Weichen für das musikalische Geschehen gestellt wurden. Graus Anschlagskultur ließ hohe Extremlagen zuweilen wirken, als wäre sein Instrument präpariert. Aber das wechselte auch – und zwar in einer atemberaubend genau abgestimmten Präzision und magisch verdichteten Ausdruckskraft.

Ehrfürchtige Stille, dann frenetischer Jubel für die großartigen Musiker und das gigantische Stück.
Foto: Martin Bernklau

Und so wurde dann technische Spitzenklasse, wurde höchste Virtuosität zu musikalischer Mystik, religiöser Meditation und klanglicher Ekstase. Die Menschen spürten das und waren ergriffen, ja überwältigt. Lang, ganz lang blieb es absolut still nach dem letzten abrundenden Durklang. Dann durften stehende Ovationen losbrechen. Ein Ereignis. Es wird lange nachhallen.

Zusatz: Im Mittelschiff saß jemand (und war vielleicht noch tiefer ergriffen als die meisten), der sich als Stiftskirchenorganist über viele Jahre und weit über Tübingen hinaus um Olivier Messiaen und seine Musik verdient gemacht hat: Horst Allgaier. So sehr er seine Königin der Instrumente und ihre Registervielfalt geliebt haben mag: Er dürfte an diesem großen Abend das herausragende Klavierduo um die Nuancierungs-Möglichkeiten der Klaviere, besonders dieser Bösendorfers beneidet haben.

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