Der Katholische Hochschulchor gibt sein Sommerkonzert mit Mörike-Liedern von Hugo Distler in der Lustnauer St. Petrus-Kirche
TÜBINGEN. Hugo Distler ist eine höchst problematische Gestalt. Der unstete Eduard Mörike auch. Aber anders. Der von Jan Stoertzenbach geleitete Chor der Katholischen Hochschulgemeinde gab sein Sommerkonzert mit einer knappen Hälfte der Lieder aus Distlers „Mörike-Chorliederbuch“, im Sommer 1939 kurz vor dem Kriegsbeginn in Graz uraufgeführt. In Briefauszügen zu passend sortierten Chorsätzen gab Andreas Giannakidis eine Lebens-Skizze des hypersensiblen Wanderpastors Mörike. Kathrin Erhardt steuerte wundervolle Flötensoli französischer Zeitgenossen von Hugo Distler bei.

Mit dem Mörike-Chorliederbuch schuf dieser Distler, sonst ganz überwiegend Geistlicher Musik zugewandt, eines der wahrscheinlich bedeutendsten Zeugnisse der Chorkunst im vergangenen Jahrhundert. Zwar stand seine tonal gebliebene Musik etwas außerhalb der musikgeschichtlichen Entwicklungs-Linien, politisch aber war der junge protestantische Kantor und spätere Kirchenmusik-Professor ganz auf Linie. Schon im ersten Jahr der Naziherrschaft trat er eilfertig („Märzgefallene“) der Partei bei und tätigte unsäglich beifällige Äußerungen zur völkisch-faschistischen Ideologie und zu seinem Führer. Das war weit mehr als willfähriger Opportunismus (wie bei Orff).
Die triste Kindheit und Jugend des in Nürnberg unehelich geborenen, von vielen (vor allem der Mutter) verlassenen und verratenen Hochbegabten kann kaum als Entschuldigung herhalten. Denn er fand auch liebevolle und fürsorgliche Förderer. Vielleicht war ein verkorkstes Familienleben, vielleicht die zunehmende Unvereinbarkeit seiner tiefgläubig christlichen Überzeugungen mit dem Hitler-Regime und dessen Krieg der Grund dafür, dass er am 1. November 1939 den Gashahn aufdrehte und seinem Leben 34-jährig ein Ende setzte.
Im Mörike-Chorliederbuch finden sich keine Spuren dieser fatalen Ideologie. Vor allem die Qualität von Distlers Kunst spricht hingegen dafür, das Werk des politisch eher Verirrten als bloß Verwirrten dann doch nicht zu canceln. Immerhin gut 150 Zuhörer kamen am Sonntagnachmittag in die etwas abgelegene katholische Kirche St. Peter nach Lustnau, einen eben renovierten, schmucklos schlichten Nachkriegsbau, der über eine sehr gute, sozusagen ebenfalls „sachliche“ Akustik verfügt.

Schlichtheit, die jedoch keineswegs die extrem hohen Anforderungen an die Musiker mindert, ist auch eines der Merkmale von Distlers Chormusik. Eine erweiterte, zuweilen dissonant angeschärfte, oft modal grundierte Harmonik, die auch Alter Musik nachempfundene Polyphonie und eine ungemein differenzierte Rhythmik kommen hinzu. Unbegleitet a cappella zu singen steigert die Schwierigkeiten zudem. Die Größe des Chores, mit wohl an die 70 Stimmen – bei eklatantem Männermangel – aber auch jenseits des angemessenen Kammerchor-Formats, erhöht die Flexibilität auch nicht gerade. Um so überzeugender, großartiger war das Ergebnis in seiner Summe.

Jan Stoertzenbach fordert viel von seinem Chor, der trotzdem – oder gerade deswegen – großen Zulauf hat. Man merkt das schon am vorgegebenen Eingangston, einem einzigen nur, den alle Stimmen abzunehmen und zu ergänzen haben, ohne die akkordische Antwort noch einmal ausbalancieren zu können. Der völlige Verzicht auf Vibrato macht makellose Intonation auch nicht gerade leichter – was sie aber sehr weitgehend war.
Schon im „Vorspruch“, dann in „Frage und Anwort“ war Distlers stilprägende Harmonik, tonal gebunden, aber mit scharfen Querständen immer wieder in eine hochdissonante Klangfarbe erweitert. Sehr präzise gelangen die oft überraschenden Wechsel in Dynamik und Rhythmus, aber auch im Gestus wie zwischen den Worten „Lerchengesang“ und „Wachtelschlag“ im „Wanderlied“. Handfest schwäbisch ging es zu, musikalisch modal bei „Lieb in den Tod“. Mörikes auch mal derben Humor setzte der Chor im Wechsel von Solostimmen und Tutti im „Handwerkerlied“ sehr temperamentvoll um.

Dazwischen aber griff Kathrin Eberhardt zu ihrer Querflöte, um Kantilenen der französichen Distler-Zeitgenossen Arthur Honegger und Francis Poulenc von der gleichfalls tonal gebliebenen „Groupe des Six“, von Claude Debussy („Syrinx“, die keusche Nymphe) sowie von Pierre Oktave Ferroud in wunderbar getragenem, immer wieder aufblühendem, aber vibratoarmem Ton zu zelebrieren.

Zu den besonders gelungenen Sätzen zählten die bekanntesten Mörike-Gedichte, allen voran die „Um Mitternacht“ herabsteigende Nacht („…vom heute gewesenen Tage“) mit seinen zwei im Charakter geradezu gegensätzlich in Töne gesetzten Teilen. Wie „Denk‘ es, o Seele“ auch, ließ es Distler in einem sanften Dur verklingen, das Stoertzenbachs Chor ganz traumhaft abschlankte. Sachtestes Pianissimo in einer gespenstischen „Traurigen Krönung“. Großartige Artikulation nicht allein in der dramatischen Ballade vom „Feuerreiter“. Nur scheinbar einfach sind die vielen oktavierten Unisoni. Fast immer gelangen sie sehr sauber.
Dieses wichtige, eher kleine Konzert hatte den begeisterten Beifall der Besucher vollkommen verdient.

