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„In die Sonne schauen“ – Befremdliche Heimat

Im Tübinger Museum und dem Reutlinger Cineplex sowie im dortigen Kamino ist Mascha Schilinskis Cannes-Sensation „In die Sonne schauen“ angelaufen

TÜBINGEN/REUTLINGEN. Mit ihrem in jeder Hinsicht eigenartigen Frauenfilm hat Mascha Schilinskis im Frühjahr nicht nur die Jury der Filmfestspiele von Cannes überzeugt. „In die Sonne schauen“ wird inzwischen auch für noch höhere Weihen gehandelt: als aussichtsreicher deutscher Oscar-Beitrag. Das Heimat-Epos aus der abgeschiedenen anhaltinischen Altmark ist aber nicht nur mit einhelliger Begeisterung aufgenommen worden, sondern auch als befremdlich und verstörend.

Ein schweigsames Festmahl zu Allerseelen. Repro: mab

Schon der Titel führt auf falsche Fährten. Ganz überwiegend ist das vierfache weibliche Selbstporträt, eine Art Familiengeschichte, die sich über mehr als einem ganzes Jahrhundert erstreckt, in gedämpftem Licht, über weiter Strecken sogar in düster warmem, doch gespenstischem Kerzenschein abgedreht. (Übrigens im traditionellen Fernseh-Vollformat von 4:3.) Auch die Szenen unter freiem Himmel malt die Kamera von Fabian Gamper – zuweilen taumelnd beweglich, hin und wieder provokativ unscharf – in gedeckten Farben: die Feste in Hof und Garten, die Feldarbeit, die einsam weiten Wege, den kleinen Fluss, dessen modrigen Geruch die Zuschauer sogar bei verschwommenen Unterwasseraufnahmen in trübem Grün förmlich riechen können.

Anstehen zum familiär-religiösen Totengedenken. Repro: mab

Ihren vier Hauptfiguren hat Mascha Schilinski schon durch die wilden Zeitsprünge ihres Bewusstseinsstroms absichtsvoll keine klar abgegrenzte Kontur gegeben. Die Mädchen und jungen Frauen verbindet eigentlich auch keine präzise Familienstruktur, sondern nur dieser Schauplatz in seiner magischen Realität. Der große Hof, ein stattliches Gut nahe dem archaisch abgelegenen sorbischen Wendland im einstigen Grenzgebiet der DDR, war für die Regisseurin und ihre Co-Autorin Louise Peter Inspirationsquelle und Drehort zugleich. Eigentlich ist der Ort die Hauptperson.

In Allem bleiben von Anfang an Rätsel und gespenstisches Geheimnis. Die Geschichte beginnt irgendwann in der Kaiserzeit vor dem Ersten Weltkrieg mit der vielleicht sieben- oder achtjährigen Alma (in spektakulärer Kinderrolle: Hanna Heckl), die anhand eines seltsamen Familienfotos mit einem toten Kind erkennen muss, dass sie nach einer älteren Schwester benannt ist, die einst auf unklare Weise zu Tode gekommen war – wie später noch so viele Gestalten.

Massenselbstmord bei Kriegsende. Auch Erika geht ins Wasser, überlebt aber. Repro: mab

Almas Nachfolgerin – obwohl als erstes auf der Szene – ist die rebellische bis verträumte Erika aus den Vierzigerjahren, die sich in Mitgefühl und erotischer Neugier um ihren Onkel Fritz kümmert, für den die Familie einen angeblichen Arbeitsunfall arrangiert hatte. Ihm wird irgendwie ein Bein amputiert, damit er nicht in den fernen Krieg ziehen muss, der übrigens fern bleibt.

In der späten DDR fristet die lebensdurstige Bauerntochter Angelika auf dem kollektivierten Gehöft ein äußerlich langweiliges, aber durchaus freches Leben, in dem sie selbstbewusst ihre Sexualität zwischen den Übergriffen und erpresserischen Missbrauchsversuchen eines Onkels und offensiven eigenen Avancen an ihren schüchternen Cousin schweben lässt.

Angelika (Lena Urzendowsky) spiegelt ihren Körper in erotischer Neugier. Repro: mab

Auch für Lenka und ihre Schwester Nelly, die Ich-Erzählerin aus dem Off, spielt die Erotik eine wichtige Rolle, die jedoch immer gewichtiger von Angst, Abschied, Verlassenwerden und Tod überwölbt wird. Die Geschwister sind – in der Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit – mit ihren Eltern aus Berlin gekommen, um den abgewirtschafteten Gutshof wieder auf Vordermann zu bringen.

Eindrucksvolle weibliche Haupt- und Nebenrollen etwa als zwangssterilisierte Arbeitskraft, als an Nachbarn verschacherte Dienstmagd, als (bei einem weiteren „Arbeitsunfall“ gemeuchelte) schwangere Erntehelferin oder als übersinnlich begabte Haushälterin Emma hat die Regisseurin unter anderen an Luise Heyer, Lea Drinda, Lena Urzendowsky, Claudia Geiseler-Bading und Laeni Geiseler verteilt, neben denen Susanne Wuest die vielleicht intensivste Strahlkraft gewinnt.

Womöglich findet es Kritik oder Widerspruch, vielleicht kann es aber auch als Erholung empfunden werden. Es ist jedenfalls mutig, dass sämtliche Frauenfiguren – die Männer sowieso – „hetero“ oder „cis“ und dabei überwiegend sexuell sehr aktiv sind. Mit den gängigen Trans- und Genderproblemen oder anderen Identitätskonflikten des Zeitgeistes will Mascha Schilinski ihre Zuschauer ganz offenbar nicht behelligen. Konsequenterweise gibt es auch keine schwulen oder lesbischen Beziehungen oder beispielsweise eine dunkelhäutige Fischverkäuferin. Fische übrigens spielen eine schillernde leitmotivische Rolle, ob als Fang-Objekte eines befremdlichen Landfest-Spektakels oder als blutegelhaft bissige Aale.

Die Ausstattung wirkt zwar der langen Zeitspanne entsprechend authentisch, dabei aber nicht angestrengt, aufwendig oder gar manieristisch. Hier mal alte Möbel oder ein Meißener Service, da ein Trabbi, dort ein Mähdrescher oder eine Polaroid. Die Musik ist eigentlich überhaupt nicht da, außer als Teil der Handlung. Ein leiser, ein stiller Film. Nur das anschwellende Dröhnen, rätselhaft wie so Vieles, springt immer wieder mal bedrohlich ins arglose Ohr.

Streckenweise wirkt der Film, als habe der Stab sich – einschließlich der Cutterin Evelyne Rack – völlig frei den unbeherrschbaren Assoziationen eines LSD-Trips oder ähnlicher Halluzinogene hingegeben und dem Cast dabei wie an langer Leine virtuos improvisierend alle Freiheit der Figurenzeichnung überlassen. Und trotzdem scheint dabei ein Kinokunstwerk höchster Originalität, Poesie, Eindringlichkeit und Einzigartigkeit entstanden zu sein.

Preis der Jury: Crew und Cast in Cannes. Foto: Verleih

Große Vergleiche drängen sich auf. Da sind literarische Werke wie der „Ulysses“ von James Joyce mit dem legendären Monolog der Molly Bloom; Arthur Schnitzlers „Leutnant Gustl“ als dahinströmendes Selbstgespräch, der „magische Realismus“ eines Gabriel Garcia Marquez oder die Suadas von Thomas Bernhard.

Und da sind filmische Verwandschaften oder Bezüge oder eben Assoziationen: die erste Hunsrück-Saga („Heimat“) von Edgar Reitz oder Michael Haneckes „Weißes Band“, beide in Schwarzweiß, letzteres auch ein mystisches Kinderdrama zwischen Horror und Heimat; die Familien-Epen der düsteren dänischen Dogma-Revolutionäre um Lars von Trier und Thomas Vinterberg; vielleicht sogar Jane Campions exotisches „Piano“, die geschichtstiefen Epen Coppolas oder des späten Sergio Leone…

Wie auch immer: „In die Sonne schauen“ ist ein so eindrückliches wie ergreifendes und verstörendes Werk, das lange nachwirken wird.

(FSK ab 16)

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