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Zimmertheater – Zur rechten Zeit

Mutters Courage

Im Gewölbekeller der Bursagasse 16 eröffnet der neue Intendant Thomas Bockelmann mit „Mutters Courage“ von George Tabori die Spielzeit

TÜBINGEN. Drei Worte lang war Thomas Bockelmann am Samstagabend – was er früher schon mal war: der neue Intendant des Zimmertheaters. „Guten Abend, Tübingen!“, sagte er zur Premiere im traditionsreichen Gewölbe in der Bursagasse, das seit langem ausverkauft war. Dann schlüpfte er in seine Rolle als George Tabori. An seiner Seite, seit vielen Jahren in Bockelmanns Inszenierung(en) von „Mutters Courage“: Sigrun Schneider-Kaethner.

Wie war es genau? Mutter und Sohn, Sigrun Schneider-Kaethner und Thomas Bockelmann im Bursa-Gewölbe.

George Tabori war nach dem Freitod von Salvatore Poddine im Jahr 1972 als Interims-Intendant des Tübinger Zimmertheaters eingesprungen. Die Erzählung von der unglaublichen Selbstrettung seiner damals sechzigjährigen Mutter Elsa aus dem Zug, dessen Viehwaggons im Sommer 1944 von Budapest aus mit Tausenden anderer ungarischer Juden gen Auschwitz gingen, hat Tabori zu einem raffiniert geschichteten Stück erweitert, das er 1979 auf die Bühne der Münchner Kammerspiele brachte. Es wurde auch verfilmt.

Nicht alle Intimitäten ihrer unglaublichen Rettung vor dem Tod in den Gaskammern von Auschwitz will Elsa Tabori von ihrem Sohn (Thomas Bockelmann), dem Erzähler und Theatermann, an die Öffentlichkeit getragen wissen.

Der junge Tabori war den Nazis rechtzeitig nach London entkommen und Brite geworden. Sein Vater, Mitglied eines Budapester Marxistenkreises von jüdischen Intellektuellen, war von SS-Schergen brutal aus dem Bett geprügelt und später in Auschwitz ermordet worden. Die Mutter, im eleganten Kleinen Schwarzen auf dem Weg zu einer tröstlichen Rommée-Partie bei ihrer Schwester, verhafteten die Häscher dann von der Straße weg zur Deportation im Viehwaggon. Mit Chuzpe und dem Charme ihrer blauen Augen machte sie beim ersten Zwischenstopp einem SS-Offizier weis, im Besitz eines schwedischen Rotkreuz-Schutzvisums zu sein und entkam so der Vernichtung. Sie kommt sogar noch rechtzeitig zum Rommée. Das mag übertrieben pointiert sein.

Eine szenische Rückblende auf die düster schwarzen
Stunden im Deportationszug. Sigrun Schneider-Kaethner
im grellen Licht eines schmalen Querbalkens.

Die Szene spielt viele Jahre später. Der Sohn will die unglaubliche wahre, mündlich überlieferte Geschichte als Novelle erzählen und bekommt Besuch von der Mutter. Die alte Dame hat Einiges zu korrigieren, viel zusätzlichen Stoff und manches Detail, will aber auch viel Intimes nicht preisgegeben wissen: den verzweifelten Übergriff eines anonymen Mitdeportierten im Stehen, von hinten – sie duldet diesen letzten Sex im Viehwaggon. Auch das dröge letzte Mal mit dem Gatten im weißen Hotel unter Tannen am Urlaubsort, das Einnässen vor Angst, die Tränen des unfassbaren Glücks…

Den Erzähltext dieser Hommage an die tapfere Mutter macht Tabori bühnenfähig, indem er die zweite Ebene des Erinnerns, Debattierens, Streitens, Trauerns, Lästerns und sogar des Witzelns samt ein paar szenisch aufladbaren Rückblenden zum spannend facettierten Drama zwischen zwei Personen, zwischen Mutter und Sohn macht. Das ist durchaus Verfremdung im Sinne Brechts, vor allem aber virtuose Dramatisierung. Und der Titel „Mutters Courage“ ist nur eine von zahllosen geistreichen oder auch mal zornig zugespitzten Verweisen und Anspielungen.

Die unverwüstliche Liebe der Mutter zum Leben, all die Nuancen von Taboris unzerstörbarem Humor angesichts des Grauens sind unvergleichlich – Humor, echter feiner, auch mal gröberer Humor, jüdischer Humor, nicht bloß höhnische Holzhammer-Ironie durch witzig-sarkastisches Übertreiben und Umkehren, geschweige denn giftiger Zynismus. Auch in Tübingen konnte gelächelt, hin und wieder sogar herzhaft gelacht werden.

„Mutters Courage“: Erinnern bei Tee und Beaujolais nouveau.

„Mutters Courage“ hat das Duo vor einem Jahr auf Englisch in der kalifornischen Villa Aurora aufgeführt, wo Lion Feuchtwanger und seine Frau Marta von 1943 an so vielen Exilanten wie Brecht, den Manns, den Werfels, aber auch Charlie Chaplin einen gastlichen Treffpunkt boten. Dafür kam Taboris Tochter extra aus New York nach Pacific Palisades und umarmte das Duo hernach. Auch vor Shoa-Überlebenden haben sie das Stück zum Holocaust-Gedenktag vor vielen Jahren in Münster einmal gegeben. Da sei zwar nicht ein einziges Mal laut gelacht worden, berichtet die Schauspielerin, aber der Dank danach sei innig gewesen.

Das Spiel und die Inszenierung – Ausstattung: Pia Janssen, Kostüme: Ursina Zürcher, Musik im Klezmer-Stil Giora Feidmans: Erich Radke – strahlen nach all den Jahren die ganze profunde Erfahrung aus, mit aller Intensität und Spannweite, die dieser Stoff verlangt.

Es gab langen begeisterten Beifall für „Mutters Courage“, für dieses unglaubliche Stück Bühnenkunst. Es kommt zur rechten Zeit ans Zimmertheater, zu einer Zeit, wo ein unfassbarer neuer Judenhass von Gaza aus wie ein Tsunami um die ganze Welt schwappt.

Fotos: N. Klinger/Zimmertheater

Anmerkung: Zur Premiere war auch einer der (neben den Johsts) damals, 1958, jugendlichen Gründer des Zimmertheaters aus Aachen gekommen: der 88 Jahre alte, aber noch in jeder Hinsicht fitte Tom Witkowski.

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