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Zimmertheater – Viel Glück und ein Tod

Mit der siebenten Episode feierte das Tübinger ITZ-Zimmertheater das Finale seines Krimi-Serials „Im Taumel des Zorns“

TÜBINGEN. Da war natürlich am Samstagabend zum Finale vieles zu bündeln, zu klären, zu erklären und zum Ring zu schmieden – auch die Cliffhanger und Seitenstränge der Story des Geiseldramas „Im Taumel des Zorns“, mit deren sieben Krimi-Folgen unterschiedlicher Autoren und Regisseure das Tübinger Zimmertheater die Saison geprägt und ein wohl einzigartiges Experiment auf seine zweite Bühne im alten Löwen-Kino gebracht hat.

Vielleicht war das der Grund, weshalb „Die Wahrheit lädt zum Lügen ein“ als Folge 7 – vom scheidenden Intendanten Peer Mia Ripberger getextet und von David Moser inszeniert – trotz vieler Regie-Einfälle etwas textlastig und szenenarm blieb. Das Team und das durchgängig tolle Schauspieler-Quintett aus Eva-Lucia Grieser (Holle), Cyril Hilfiker (Enno), Seraina Löschaus zweiter Geisel Merit, der gefeuerten Apotheken-Chefin Cecilia (Lauretta van de Merwe) sowie Morris Weckherlin als Buddy und Bufdi Ove wurden vom Publikum standesgemäß noch einmal frenetisch gefeiert.

Cecilias Geständnis. Im Hintergrund die sterbende Holle (Eva Maria Graser). Foto: Martin Bernklau

Das Geständnis der geschassten Apotheken-Leiterin, längst auch eher von der Geisel zur Mittäterin changiert, soll jetzt im Mittelpunkt stehen. Weit hinten auf einem Podest der bewährten Element-Bühne von Valentin Baumeister kümmert sich Enno ein wenig leise und schwer verständlich um die von einer Polizeikugel blutig verwundete und sowieso vom Krebs im Endstadium moribunde Holle.

Das ganze Geständnis, Cecilias Monolog, wird dann allerdings erst mal zu einer etwas thesenhaften Lehrstunde in Kapitalismus, Klassenkampf und Korruptionsbekämpfung, chorisch angefeuert von den Komplizen („Weiter! Weiter!“) und unterlegt von gefällig dezent an- und abschwellenden E-Arpeggien der Musik von Konstantin Dupelius und Justus Wilcken.

Denn unter den Sparzwängen der skrupellosen Klinikleitung hat die Apothekerin schräge Geschäfte mit re-importierten unsauberen Medikamenten machen müssen, für die sie jetzt als Bauernopfer der Manager den Sündenbock-Kopf hinhalten soll. Man erinnert sich: An dem gepanschten Gift-Cocktail ist nicht nur Holle vollends todkrank geworden, sondern auch Pharma-Assistentin Merit hat Rache geschworen für ihre daran zugrunde gegangene Freundin – und die als Drogenbeschaffung begonnene Geiselnahme kühl geplant.

Als es gelungen ist, die Veröffentlichung des Skandals in der Tagesschau zu erreichen, feiert sich die (ohne die sterbende Holle) zum Quartett geschrumpfte Aktivistentruppe mit Lachen, Abklatschen und jubelnden Umarmungen selber und rechnet mit Straffreiheit, zumal in Masken schwadronierende Politiker und Journalisten (als Nebenrollen aller Akteure) im TV Verständnis vor allem für das Whistle Blowing bekunden. Doch die polizeiliche Unterhändlerin Karen (Seraina Löschau in einer eindrucksvoll anderen Zweitrolle) macht Druck. Ihr journalistisches Geiselnehmer-Gegenüber Enno nennt sie inzwischen „Karaoke“.

Seraina Löschau in einer großartigen kleinen Zweitrolle als Unterhändlerin Karen. Fotos: Alexander Gonschior /ITZ

Für die sympathisierenden Demonstranten geht ein Video viral, auch anonyme Hacker haben Partei ergriffen. Vor allem die vermeintliche Rädelsführerin Holle soll in Freiheit kommen. Aber die liegt im tatsächlich im Sterben, was Eva Lucia Graser so intensiv und dicht wie sparsam diskret darstellt („Der Sensenmann ist da“), gegen Ende in einem silbern strahlenden Totenkleid. Als letzten Dienst, dazu als Heiligsprechung zur Heldin und Märtyrerin soll und will sie alle Schuld auf sich nehmen und damit für die Amnestie aller Aktivisten-Freunde sorgen.

So geschieht es. Holle will es. Auf Händen wird Enno die heilige Leiche durch die Menge und ins Volk tragen.

Ein dritter Teil, eine Art Coda, reflektiert die ganze Sache noch einmal, die Lichttechniker (Martin Kendon, Clemens Mergner) und Viedeokünstlerin Katarina Eckold) fahren noch einmal ihr volles Arsenal auf. Vor allem in einer ausgedehnten und anrührenden Video-Sequenz aller fünf Rollenspieler mit tränenverschmierter Schminke, mit roten Trauer-Rosen auf dem regennassen Kopfsteinpflaster vor der Spielstätte Löwen zu edel balladesker Musik geschieht das. Brachte der Krebs den Tod? Oder war es die Kugel? Liegt die Schuld beim Pharma-Gift der Gesundheits-Kapitalisten oder bei einer schießwütigen Polizei?

Aber eigentlich sind alle, alle happy, wie Morris Weckherlin in Oves Epilog versichert – außer der einen, außer Holle, dem einen Opfertod. Aber der hat ja doch irgendwie Sinn bekommen. Auch da ist in all dem Text notwendigerweise wieder wenig Geschehen, wenig Schauspiel zu sehen. Zum bloßen Thesen-Theater aus chorischen Parolen, Erklärungen und Reflexionen, aus Reportagen und Verlautbarungen verkümmert das zwar auch im Finale vom „Taumel des Zorns“ noch nicht.

Aber vielleicht behält das Zimmertheater als „Institut für theatrale Zukunftsforschung“ auch die nicht ganz unwichtige Aufgabe im Auge: das Schauspiel als Kunst und Genre zu erhalten und dabei ein bisschen das früher so blühende szenische Bühnenleben zu bewahren gegen die zunehmende Textlastigkeit, ob sie nun von aktivistischer Vereinnahmung oder von den auf allen kleinen und großen Schauspielhäusern zunehmenden Dramatisierungen nicht-theatraler Texte herrühren mag. Auch die Dramaturgie sollte nicht nur nach hippen Stoffen, sondern sehr sorgsam auch nach echten Dramatikern (beiderlei Geschlechts, jeglicher relevanter Thematik, versteht sich) Ausschau halten. Es gibt sie. Es muss.

Im Anschluss feierte eine rauschende Premieren-Party das siebenteilige, aber einzigartige und einmalige Tübinger Theater-Ereignis. Erstaunlich übrigens, fast wohltuend, wie weitgehend sich gerade das Finale jener zeitgeistigen Themen enthielt, denen (nach bewältigtem Corona) auch am Theater sonst kaum zu entkommen ist: Klima, Transgender, Ukraine-Krieg-und-Frieden, Migration, Rechtspopulismus…

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