Das sechste Konzert der Württembergischen Philharmonie widmete sich unter Paweł Kapuła mit dem Landesjugendchor Penderecki und Brahms
REUTLINGEN. Es gibt eigenartige Zufälle. Eine Woche nach dem Tod des Papstes trat am Montagabend der junge polnische Dirigent Paweł Kapuła beim sechsten Sinfoniekonzert der Württembergischen Philharmonie mit einem Werk vor das Publikum in einer gut besuchten Reutlinger Stadthalle, das der große polnische Komponist Krzysztof Penderecki zum Tod des polnischen Papstes Johannes Paul II. komponiert hat. Im Mittelpunkt stand aber „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms, das Salome Tendies mit dem Landesjugendchor Baden-Württemberg einstudiert hatte.
Die geistliche Musik, diese durchaus sakrale Aura war an sich schon ungewöhnlich für ein Sinfoniekonzert. Aber Paweł Kapuła wollte im ersten Teil des Abends zudem seinen Landsmann Krzysztof Penderecki mit einer Werkauswahl vorstellen, die an Lieblingsstücke, an eine Art willkürlichen „Best of“ denken ließ. Aber sie hatte ihren tieferen Sinn, auch im Zusammenhang mit Brahms, der übrigens genau hundert Jahre vor Penderecki geboren wurde.
Schon das wie ein Introitus wirkende Adagio aus der dritten Sinfonie ließ aufhorchen – auch, aber eben nicht nur des Stücks wegen, in dem verdichtet ist, was an Krzysztof Pendereckis ganz eigener Tonsprache als „postseriell“ oder „postmodern“ bezeichnet, aber zeitweise auch als Widerspruch zu den Dogmen der Avantgarde kritisiert wurde: eine musikalische Ausdruckskraft, die sich – in voller Kenntnis der entwickelten Satztechniken – wieder ohne die Tabus gegenüber Traditionellem der Melodik, dem Klang und der Entwicklung musikalischer Gedanken und Linien zuwandte und die Erweiterung des Klangmaterials nicht als Selbstzweck sah.
Aufmerken ließ aber auch die unglaubliche Genauigkeit und Transparenz, mit der Paweł Kapuła diese Musik und ihre großen, einander in unterschiedlichem Zeitmaß überlagernden Linien zu einer Feier klanglicher Schönheit, Klarheit und Reinheit formte, aber auch zu einer spirituellen Erhabenheit ohne alles Ornamentale, ohne jede gewollt expressive Gefühlsseligkeit führte. Da fand tiefe Religiosität ihren Ton.
Das rein Sinfonische erweiterte sich dann mit dem „Lacrimosa für Sopran und Frauenstimmen“ aus dem „Polnischen Requiem“ mit einer ergreifend schlicht artikulierenden Solistin Marysol Schalyt und den geradezu erhabenen Choristinnen, um sich mit der „Ciaconna für Streicher“ wieder zu reduzieren, die Penderecki als eine Art Trauermarsch barocken Musters dem 2005 gestorbenen polnischen Papst Karol Woytila widmete. Das Orchester zeichnete das mit höchster innerer Spannung und und fantastischer Delikatesse nach.
Die großen Bögen und fließenden Bewegungen waren es auch, die nach der Pause „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms prägten, das ebensogut als protestantisches Requiem bezeichnet werden könnte. Für das siebenteilige, ganz symmetrisch gebaute Totengedenken hat Brahms selber die eindringlichen Bibeltexte zwischen Trauer und Trost zusammengestellt. Faszinierend, wie sorgsam und genau Paweł Kapuła mit seinem höchst achtsamem Chor diesen Worten nachzuspüren verstand.
Zwischen gespenstisch fahlen Pianissimi und bedrohlich aufgetürmten Klangbildern von Tod und jüngstem Gericht meißelte der Chor da jedes Detail heraus wie Michelangelo die großen Volumina und die feinen Falten aus dem Marmor seiner Pietà. Alles war mit dem Orchester aufs Genaueste abgestimmt, auch in den Bewegungen, dem Rhythmus, der sich stärker ausgeprägter Rubati, Ritardandi oder Straffungen – etwa in den Fugen – doch enthielt. Der Ausdruck kam ganz aus der inneren Substanz.
Die beiden Vokalsolisten, Sopranistin Marysol Schalyt und vor allem der sehr hell gefärbte Bariton Äneas Humm, trugen trotz aller Stimmkraft nie opernhaft pastos auf, sondern fügten sich ganz eng in ein ebenso transparentes wie bis in die höchsten Kontraste eindringliches Ganzes ein.
Man hört das selten, dass nach so einem Schlussatz wie „Selig sind die Toten“ so lange eine so atemberaubend ehrfürchtige Stille beibehalten wird, die der fantastische Dirigent dann selber mit einer kleinen Bewegung auflösen durfte, bevor das Publikum in langen, langen Applaus für alle Beteiligten ausbrechen durfte.
Paweł Kapuła, vor erst 32 Jahren in Krakau geboren und dort auch ausgebildet, ist tatsächlich eine spektakuläre Entdeckung. Er wird seinen Weg gehen. Und der in dieser Saison einmalige Seitenweg der Württembergischen Philharmoniker vom Sinfonischen ins Sakrale war ein fesselndes Ereignis.