Ariane Matiakhs Württembergische Philharmoniker beginnen die Saison in der Reutlinger Stadthalle mit dem britischen Star-Cellisten Steven Isserlis
REUTLINGEN. Der Eine feierte ein dreijähriges Gastspiel, wurde aber vom Heimweh geplagt. Der Andere, auch aus dem östlichen Europa, darbte im amerikanischen Exil und war schwer krank. Mit Antonín Dvořáks Cellokonzert in h-Moll und dem britischen Solisten Steven Isserlis begannen die Württembergischen Philharmoniker unter der Leitung von Ariane Matiakh in einer fast ausverkauften Reutlinger Stadthalle die Saison und setzten ihr 1. Sinfoniekonzert mit Béla Bartóks „Konzert für Orchester“ fort.
Das gespiegelte Vierton-Motiv, mit dem Antonín Dvořák (1841 – bis 1904) sein Cellokonzert beginnen lässt, könnte man als leisen Ruf zurück in die böhmische Heimat deuten. Das Solokonzert h-Moll für Violoncello opus 108 war das letzte Werk, das er während seine gefeierten Aufenthalts in der Neuen Welt – als Konservatoriumsdirektor in New York – geschaffen hatte, mit leichter Hand und immensem Gefühl für das Instrument und die Bedürfnisse von Solisten geschrieben.
Dass Dvořák in jener Zeit zwischen 1892 und 1895 auch amerikanische, sogar indigene Klänge studiert und aufgenommen hatte, lässt sich stellenweise hören. Im Ganzen aber ist das kanonisch gewordene Konzert eine sehr freie Liebeserklärung an europäische Formen und die melodischen und rhythmischen Schätze seiner Heimat, mit einem sehnsuchtsvoll melancholischen Grundton.
Der 1958 geborene Steven Isserlis, gewiss ein eigenwilliger Star seiner Zunft, spielt ein Cello aus der Cremoneser Werkstatt von Antonio Stradivari, das „Marquis de Corberon“. Diesen Instrumenten wird neben der Wärme und Leuchtkraft ihres Tons ein besonders „tragender“ Klang nachgerühmt. Es mag ketzerisch klingen, aber bis zur Mitte der vollbesetzten Stadthallen-Ränge trug es nicht immer gar so kraftstrotzend.
Das mag auch damit zusammmenhängen, dass sich bei diesem Konzert zwei unterschiedliche Ansätze immer wieder aneinander rieben: Steven Isserlis mit seiner in Bogen und Fingerfertigkeit grandiosen Technik schien eine eher kammermusikalische Auffassung zu haben, während Ariane Matiakhs Zugriff mehr ein sinfonischer ist. So banal, dass ihr Orchester manchmal zu laut und der Solist zuweilen zu leise war, ist es natürlich nicht, zumal die hellwache Dirigentin in aller Regel „nachgab“ und ihre auf klare Kontur eingestellten, aber höchst aufmerksamen und auch flexiblen Musiker einzuhegen versuchte auf den Raum, den der Solist für seine eher filigrane Deutung beanspruchte.
Wobei Steven Isserlis nur bedingt an expressiver Intensität einlösen konnte, was sein äußerlicher Auftritt mit wehend herumgeworfenem Lockenkopf und wechselweise schwärmerischem Blick in Höhen und Fernen oder verinnerlicht geschlossenen Augen zu versprechen schien. Das soll nicht genervt klingen und ist sowieso reine Geschmackssache. Aber so etwas kann schon leicht ablenken von der musikalischen Substanz. Und man darf da durchaus ein eher britisches Understatement bevorzugen. Doch der rauschende Beifall ließ den Virtuosen ein berückend zartes Stück zugeben: „Das Lied der Vögel“ von Pablo Casals, dem (übrigens kahlköpfigen) Übervater aller Cellisten, der eigentlich eher unaffektiert auftrat.
Béla Bartóks „Konzert für Orchester“ heißt nicht umsonst so – und kommt trotz richtig großer sinfonischer Besetzung (zwei Harfen!) keineswegs als Sinfonie daher. In vielerlei Hinsicht passt es zum 50 Jahre früher gleichfalls in den USA entstandenen Cellokonzert von Antonin Dvořák, dem es – bei allem Heimweh – allerdings in jeder Hinsicht unvergleichlich viel besser ging als dem vor den Nazis geflohenen Ungarn. Bartók (1881 bis 1945) litt nicht nur an Leukämie, der er nur wenige Jahre später erliegen sollte, er litt auch an materieller Not und dem Gefühl, als Komponist unbeachtet und vergessen – er dachte sogar: „boykottiert“ – zu sein.
Sein schlecht bezahlter universitärer Brot-Job an der New Yorker Columbia widmete sich zwar seinen musikalischen Lebenswurzeln und Lebensadern in der ungarischen Volksmusik. Aber nur der mäzenatische Kompositionsauftrag konnte nach jahrelanger schöpferischer Abstinenz noch einmal seine Energien freisetzen. Und ähnlich wie Dvořák gebot er über eine unglaubliche Fülle an kompositorischer Erfahrung und Kunstfertigkeit, die er in seinen fünf Sätzen so souverän wie frei einzusetzen verstand, von der Sonatenhauptsatzform oder dem Rondo bis zur Fuge.
Es geht nicht nur im zweiten Satz, dem „Giuoco delle coppie“ (Spiel der Paare), ums Konzertieren, also eine Art wetteifernden ständigen Dialog von Instrumenten-Paarungen oder Gruppen. Die zentrale „Elegia“ feiert darüber hinaus auch so etwas wie die unendliche Melodie eines Richard Wagner, und im furiosen Finale fährt Bartók sozusagen in Engführung alles auf, was ihm an Formen und musikalischem Material aus seinem nicht zuletzt folkloristischen Fundus an Melodie wie Rhythmik verfügbar war – bei einem eher konzilianten Spiel an den Grenzen der Tonalität.
Ein Stück, wie geschaffen für den klaren, ordnenden und plastisch formenden musikalischen Geist von Ariane Matiakh, dem die Konturen und Strukturen einzelner Abschnitte manchmal mehr liegen als ein ganz langer, über allem schwebender Atem, der dann schnell mal diffus und flüchtig werden kann.
Als der Schlusston verklungen war, brach ein begeisterter Beifall los, der schon deshalb so lange anhielt, weil die Chefdirigentin all ihre vielen solistisch oder paarweise eingesetzten Instrumentalisten lobend hervorheben wollte, was natürlich vor allem die Bläser in Blech wie Holz betraf, doch auch Pauken und Perkussion. Aber der Streicherapparat bis hin zu den Bässen mit ihren herausragenden Passagen, die es in der sinfonischen Literatur nicht gar so häufig gibt, hatte auch eine weit mehr als bloß solide Leistung geboten.