In St. Michael, Tübinger Südstadt, sang Judith Mohrs Südwestdeutscher Kammerchor ein exquisites vorweihnachtliches Programm a cappella
TÜBINGEN. „Wachet auf!“ hieß der Choral, den der Pastor Philipp Nicolai im Pestjahr 1599 zu Unna nach einem Motiv des Schusters und Nürnberger Meistersingers Hans Sachs in seinem Sammelband „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ veröffentlichte. Das Motiv, das Thema mit dem aufsteigenden C-Dur-Dreiklang, der pochenden Figur zur Sext mit der zweiten Fanfare hin, hat seither Generationen von Musikern inspiriert. Der Südwestdeutsche Kammerchor nahm es sich am Sonntagabend für sein Adventskonzert in der bis auf den letzten Platz besetzten Katholischen Kirche St. Michael, Tübinger Südstadt, zum Motto.
Foto: Martin Bernklau
Für die ältesten Bearbeitungen der Chorals, von Michael Praetorius (1571 bis 1621) zwei- bis siebenstimmig gesetzt, hatte sich Judith Mohr einen besonderen akustischen Effekt ausgedacht. Ein kleiner Favoritchor sang die erste Strophe responsorisch hinter dem Ensemble und hinter dem Altar, wo der Bogen zum Chorraum eine akustische Schwelle bildet. Schon da war zu hören: ein ungemein fein ausgearbeiteter Klang, vibratofrei – was die Sache keineswegs leichter macht. Dazu, mit federndem Schwung und aufblühenden Steigerungen dirigiert, ganz an den Sprachen der Werke entlang, die folgten: Deutsch, Latein und Englisch.
Zoltán Kodály (!862 bis 1967) gehört neben seinem Freund Béla Bartók zu der ungarischen Gruppe, die sich der strengen Atonalität der von Wien ausgehenden Zwölftontechnik verweigerte – ein einziges Thema, das alle zwölf Töne der Leiter enthalten muss, ist Grundlage jedes Stücks – und stattdessen besonders aus den Quellen der Volksmusik zu schöpfen versuchte. Kodálys adventliches „Veni, veni Emmanuel“, vierstimmig gesetzt, geht auf eine ähnlich weit verbreitete Melodie zurück, die er einstimmig oktaviert vorstellt. Kodály fasst sodann sogenannte O-Antiphonen, Wechselgesänge mit refrainartig erwartungsvollen Ausrufen („Gaude, Gaude!“, freue Dich!), strophenähnlich zusammen. Eine subtile harmonische Färbung erweitert die Klänge zu vielerlei Dissonanz oder leeren Quinten, bleibt aber der Tonalität von Dur oder Moll verbunden.
„Adonai“ (Herr!) ist im Hebräischen und in Jesu Muttersprache Aramäisch die Anrede für Jahwe (JHWH), dessen Name nicht ausgesprochen werden darf. Der polnische Komponist Pawel Lukaszewski, 1968 geboren, hat aus einem lateinischen Gebet mit diesem Anruf ein mehrteiliges Stück gemacht, das fließend zwischen oft hochdissonaten, lang ausgehaltenen Flächen und melodischen Linien wechselt, trotz tonaler Bindung eminent schwer zu singen – was dem knapp 50-köpfigen Kammerchor aber eindrücklich genau gelang.
Mit „The Lamb“, dem vierstimmigen Satz von John Tavener (1944 bis 2013) über ein frommes Gedicht von William Blake, kamen englische Klänge in das Konzert. Strawinsky hatte Tavener für seine vorwiegend geistliche Vokalmusik angeregt, die zwischen tonal und hochdissonant changiert. Die Frauenstimmen begannen, ein terzbetontes Dur beschloss das expressive Werk, makellos vorgetragen in seiner heiklen Intonation.
Eine weihnachtliche Romanze in eigenen Worten, „Into Winter’s Glimm’ring Night“, hat die 1951 geborene Amerikanerin Patricia van Nees 2019 für sechstimmigen Chor vertont. Sie orientiert sich an der Polyphonie Alter Musik , beginnt mit einer gregorianisch anmutenden Kantilene und legt besonderes Gewicht auf die Frauenstimmen. Mit eine leeren Quint auf den Freudenquell des „little Child“ endet das ausdrucksstarke Stück. Auch der 1970 geborene Brite Will Todd aus der Tübinger Partnerstadt Durham wählte eigene Worte, um in „My Lord has come“ adventliche Gefühle in seinem vierstimmigen Satz für gemischten Chor auszudrücken; auch er scheut traditionelles Dur nicht und steigert die vier Titelworte zu einem jubilierenden Leitsatz.
Danach nahm sich das stimmlich so fein geschulte und sorgsam vorbereitete Ensemble noch einmal Michael Praetorius in weiteren Strophen und frühbarocken Choralbearbeitungen von „Wachet auf!“ vor. Mit einem doppelchörigen „Magnificat“, dem Lobgesang Mariens für Gottes barmherzige Zuwendung zu den Armen und Hungernden, zu seinem Kind, dem Volk Israel, und gegen die Reichen und Mächtigen kam irischer Klang spätromantischer Tonsprache in die Stückfolge. Charles V. Stanford orientierte sich bei dem prächtigen, festlichen Werk auch an den barocken Traditionen von Purcell, Byrd, Schütz und Bach. Großer Chorklang, der sich keine Zurückhaltung wegen der sehr direkten Akustik der Michaelskirche auferlegte und mit klarer Sprache ebenso wie mit wechselnden Führungsstimmen für seine wunderbaren Kantilenen ganz durchsichtig blieb.
Auch der 1977 geborene Philip Stopford, britischer Oraganist und Komponist mit ausgeprägter Neigung zur Chormusik, hat keine Berührungsängste mit tonalem Wohlklang, türmt aber auch gerne wuchtig dissonante Cluster-Flächen auf. Sein vierstimmiges „Tomorrow shall be my dancing day“ wirkt zwar zunächst wie ein tänzerisches Liebeslied „for my true love“ – bis sich diese Euphorie als Begeisterung über seine christliche Bekehrung und Taufe auf den dreieinigen Gott herausschält. Der Sopran führt nicht nur mit einer Art Cantus firmus in den Satz ein, die Frauen erklimmen auch höchste Höhen, kraftvoll und selbst am Ende dieses anstrengenden Programms noch absolut sauber.
Für den arg schnell losbrechenden Beifall bedankten sich Judith Mohr und ihr ganz ausgezeichneter Kammerchor mit Felix Mendelssohns Motette „Lasset uns frohlocken!“ – schönster romantischer Wohllaut.
