In der Reutlinger Stadthalle spielte Lionel Martin am Montagabend Schumanns Cello-Konzert mit der Württembergischen Philharmonie unter Ariane Matiakh.
REUTLINGEN. Ein junger Star – und noch dazu aus der Nachbarstadt. Beim 2. Sinfoniekonzert in der ausverkauften Stadthalle feierte das Reutlinger Publikum den Tübinger Cellisten Lionel Martin am Montagabend für sein Schumann-Konzert. Die Württembergische Philharmonie unter ihrer Chefdirigentin umrahmte den glanzvollen Auftritt mit Grażyna Bacewiczs polnischer Pièce de resistance und der Zweiten Sinfonie von Johannes Brahms.
Unbekanntes Neues nahebringen, das gehört für Ariane Matiakh bei den Sinfoniekonzerten mit ihrer Württembergischen Philharmonie zur Pflicht. Diesmal war es zum Auftakt die polnische Komponistin Grażyna Bacewicz mit ihrer Orchester-Ouvertüre, im Weltkrieg entstanden, aber erst zum siebten Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen am 1. September 1946 – nicht im verwüsteten Warschau, sondern im unzerstörten Krakau – uraufgeführt.
Die vielseitig hochbegabte Grażyna Bacewicz (1909 bis 1969), mit litauischem Migrationshintergrund in Łódź aufgewachsen, wechselte nach Philosophiestudien ans Warschauer Konservatorium zu den Fächern Klavier, Violine und Komposition. In Paris ließ sie sich von der großen Nadia Boulanger im Tonsatz unterweisen und blieb lang deren neoklassizistischem Stil verbunden.
Das Viertonmotiv, mit dem die Pauke leise anhebt, hat den Rhythmus von Beethovens anklopfendem Schicksal. Es wird in Polen aber gemeinhin aus dem Morse-Alphabet gedeutet: als V für „Victory“, das Siegeszeichen Churchills, das nicht nur den Durchhaltewillen der polnische Exilarmee in London, sondern auch den heimischen Widerstand im unterjochten Land stärkte. Es durchzieht das ganze kompakte Stück, das die Dirigentin mit den Philharmonikern so kraftvoll wie kontrastreich ausdeutete. Ein in allem Stimmen mit seiner unerbittlichen Motorik immer wieder neu ansetzendes, die Kräfte sammelndes Anschwellen bis zum fulminanten Finale.
Anne-Sophie Mutter darf als Entdeckerin des inzwischen 22-jährigen Lionel Martin gelten, der den ersten Violoncello-Unterricht als Fünfjähriger bei Joseph Hasten an der Tübinger Musikschule bekam. Seit 2014 ist er Stipendiat ihrer Stiftung und spielt oft Kammermusik mit der großen Geigerin, aber längst auch mit den bedeutendsten Orchestern auf den großen Podien zusammen.
Als Robert Schumann sein Konzert a-Moll für Violoncello und Orchester im Jahr 1850 binnen zweier manischer Oktoberwochen schrieb (und die „Rheinische“ folgen ließ), schien sein Scheitern als Düsseldorfer Generalmusikdirektor sofort schon absehbar. Vielleicht flüchtete er vor den vielen ungeliebten, ihn überfordernden neuen Aufgaben ins Komponieren schwungvoll melodischer, heiter-lyrischer Musik voll Überschwang und Emphase. Das Cello-Konzert hat er nie veröffentlicht. Erst Pablo Casals hat es wiederentdeckt und das durchkomponierte dreisätzige Werk auch wegen der übermütigen Virtuosität zu einem kanonischen Paradestück erhoben.
Dass das Konzert insgesamt eher hoch liegt, zuweilen fast bratschenhaft klingen darf, kommt der Spielweise von Lionel Martin durchaus entgegen. Sein Ton ist bei aller lyrischen Intensität luftig leicht und wirkt selbst in den tiefen, sonoren Lagen nie pastos dick aufgetragen, auch wenn er mit einem nachverdichtenden schnellen Vibrato – ganz im Gegensatz zu den zurückhaltenden Orchesterstreichern übrigens – nicht spart. Lionel Martins fingerfertige Geläufigkeit ist phänomenal. Die Töne sind in den rasenden Skalen oft an der Grenze zur einzelnen Wahrnehmbarkeit, doch dabei absolut präzise und rein. Wie die Arpeggien und Doppelgriffe. Der Bogen jagt wie wild über die Saiten, oft und gerne mit Tendenz zum Spiccato, ohne je „das Cello zu fegen“, wie Thomas Mann das mal spöttisch nannte.
Ob der jubelnde Beifall mehr der atemberaubenden Virtuosität oder der lyrisch-poetischen Ausdrucksdichte galt, darf dahingestellt bleiben. Lionel Martin bedankte sich jedenfalls besonders originell: Er spielte einen Sonatensatz von Luigi Boccherini gemeinsam mit dem Solocellisten des Orchesters, Dong Nyouk „Sunrise“ Kim, als Basso continuo. Wunderbar. Der Umarmung folgte als zweite Zugabe – ganz konventionell, aber auch in diesem ganz eigenem, luftigen Ton – die Allemande aus Bachs Solosonate G-Dur.
Die zweite Sinfonie von Johannes Brahms, D-Dur opus 73, im Sommer 1877 am Wörthersee und in Baden-Lichtenthal geschrieben, gilt gemeinhin als heiter-pastorales Gegenstück zum tiefernsten, vielleicht sogar geistvoll vergrübelten direkten Vorgängerwerk in c-Moll. Dabei wird oft ein wenig übersehen, dass Brahms, der sich stets auch kompositorische Aufgaben und Probleme vorgab, hier mit äußerst komplexen Rhythmen spielte und arbeitete. In allen vier Sätzen bringen Synkopen mehr als nur Schwung und Bewegung ins Geschehens: Sie sind prägendes Stilelement.
Genau das arbeitete Ariane Matiakh in dem ihr eigenen Willen zu Transparenz und Struktur, zu Clarté, sehr bewusst heraus – ohne die heiter sanglichen Qualitäten der Sinfonie, ihre lichtdurchfluteten Klänge zu vernachlässigen. Das Orchester hatte sich zuvor vom musikalischen Charisma des Cello-Solisten fast ein wenig an die Wand spielen lassen, jedenfalls beinahe schon schüchtern zurückgehalten. Jetzt konnte es sich klanglich wieder ganz frei entfalten, bis zu dahinschmelzend kantablen Melodien. Nicht alle rhythmischen Finessen und Gegenbewegungen gelangen allen Solo-Instrumentalisten gleich genau und stabil. Vielleicht geriet auch Manches, etwa im Adagio, eine Spur zu laut. Das minderte den großartigen Gesamteindruck aber kaum.
Im begeisterten Applaus waren – wie zuvor für Lionel Martin – viele Bravo-Rufe zu vernehmen.
