Frank Oidtmann vom Tübinger Stift beschließt den Reutlinger Orgelsommer in Gönningen
GÖNNINGEN. Der Orgelsommer-Abschluss findet traditionell in Gönningen statt, weil zu dieser Zeit die Reutlinger Marienkirche – auch akustisch – vom Weindorf umlagert ist. Die evangelische Dorfkirche in Gönningen bietet eine vorzügliche Akustik und eine 1970 restaurierte, 1844 erbaute Orgel, die das Klangbild der Frühromantik bewahrt. Allerdings hat sie technische Tücken; in früheren Orgelsommern wurde das Publikum bei der Begrüßung noch vor hängenden Tasten und ähnlichen Unwägbarkeiten gewarnt.
Diesmal begann die Musik direkt nach dem Glockenschlag. Am Spieltisch: Frank Oidtmann, vielseitiger Musiker und Organist, 2015 bis Anfang 2025 Musikdirektor am Evangelischen Stift in Tübingen, nunmehr Dekanatskantor in Kaufbeuren. Sein Programm verband unter dem Titel „Orgelsonaten der Romantik“ zwei der bekannten, 1845 veröffentlichten Orgelsonaten op. 65 von Felix Mendelssohn Bartholdy mit Werken eher unbekannter deutscher Komponisten: Camillo Schumann (1872 bis1946, nicht verwandt mit Robert Schumann), Christian Fink (1831 bis 1911) und August Gottfried Ritter (1811 bis 1885). Camillo Schumann war Organist in Berlin und Eisenach, Christian Fink Dozent am Esslinger Lehrerseminar und Musikdirektor an St. Dionys, Ritter Organist in Erfurt. Als Komponisten werden sie der „zweiten Reihe“ zugerechnet, ihr Stil orientiert sich am Vorbild Mendelssohn. Dieser wiederum war stark von der Musik Johann Sebastian Bachs geprägt – insofern hätte man diese der Werkfolge voranstellen können.
Man kann eine historische Orgel behutsam behandeln, indem man sich auf ihre Schokoladenseiten beschränkt und – im Fall der Gönninger Orgel – ruhige, sangliche Soli in lieblichen Labialstimmen bevorzugt, getragen vom „atmenden Wind“ des romantisch rekonstruierten Instruments. Man kann aber auch versuchen, sie an die Grenzen ihrer Möglichkeiten zu führen – das tat Frank Oidtmann.
Im Auftakt und in den glanzvollen Abschnitten der zwei Mendelssohn’schen Sonaten zog er (fast) alle Register der alten Orgel und zündete ein schwungvolles Feuerwerk der Virtuosität, ebenso mit Camillo Schumanns Fuge über „Lobe den Herren“ aus dessen 4. Sonate op. 67. Auch die langsamen Sätze wirkten flott und eher unruhig, obgleich hier die sanften Labialregister zum Zuge kamen.
Mit dem Namen „Sonate“ war in der Orgelmusik (anders als in der Klaviermusik) kein festes Formmodell verbunden. Sie bestand aus ganz unterschiedlichen Sätzen und konnte auch eine Choralbearbeitung sein. So in diesem Fall die Sonaten von Fink und Ritter; Fink verarbeitete den bekannten Choral „Jesu, meine Freude“, Ritter die heute unbekannte niederländische Hymne „Wien Neêrlands bloed in d’ aders vloeit“ („Wem niederländisches Blut in den Adern fließt“) – was nicht erwähnt wurde, und deren Melodie der Organist wenigstens hätte anspielen können.
Zu Christian Fink hat Frank Oidtmann vermutlich eine engere Beziehung, denn Fink wirkte wie er als Organist und Kantor in Esslingen am Neckar und war eine bekannte Größe im damaligen Königreich Württemberg. Finks 20-minütige dreisätzige Orgelsonate Nr. 3 in d-Moll besteht aus einer Reihe von Variationen über „Jesu, meine Freude“ nach traditionellen Mustern in kontrastreicher Folge. Diese Kontraste betonte Oidtmann durch besonders farbige, bisweilen geradezu exotische Registrierungen: So folgte dem betont schlichten Anfang unvermittelt eine wuchtige, obertonreiche Fortsetzung, und der cantus firmus in Tenorlage erhielt eine befremdlich scharfe Note.
Die häufigen Registerwechsel in der Fink’schen Sonate sorgten nicht nur für rasch wechselnde Farbigkeit, sondern auch für ungeplante Zäsuren mitten im Stück. Da die alte Orgel über wenig technische Spielhilfen verfügt und kein Assistent dem Spieler beistand, musste dieser die Register einzeln ziehen, was einen entsprechenden Zeitaufwand mitsamt Knacken und Knarzen zur Folge hatte und das Publikum zu der irrigen Annahme verleitete, es handle sich um zwei Stücke. Nach den grandiosen, die Dorfkirche in eine Kathedrale verwandelnden Akkorden setzte ein Teil des Publikums zum Schlussapplaus an, manche standen auf und wandten sich schon zum Gehen.
Frank Oidtmann korrigierte den Irrtum durch eine kurze Ansage und den Hinweis auf die noch folgende Sonate Nr. 4 in A-Dur von August Gottfried Ritter. Hier überzeugte er durch deutlich artikuliertes, beinahe pianistisches Spiel und beeindruckte erneut durch den kontrastreichen Einsatz der Register, der am Ende für ein klangmächtiges Finale sorgte. Nun war der Schlussapplaus an der richtigen Stelle.