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Orgelsommer – Tanz um den Choral

Der Stuttgarter Orgel-Virtuose und Lehrer Ludger Lohmann spielte am Samstagabend in der Reutlinger Marienkirche

REUTLINGEN. An diesem Reutlinger Orgelsommer-Abend war ein illustrer Gast zu erleben: Ludger Lohmann, weltweit renommierter Organist und hochverdienter Professor. „Viele Kollegen haben bei ihm studiert“, bekannte Orgelsommer-Leiter Torsten Wille bei seiner Begrüßung des zahlreich erschienen Publikums. Zuletzt lehrte Lohmann an der Musikhochschule Stuttgart, seit 2020 ist er emeritiert.

„Tanz um den Choral“ lautet das Motto des Abends. Dieser „Choral“ ist allerdings keiner im traditionellen Sinn, sondern eines der freien Orgelstücke von César Franck. Es bildet das Zentrum einer Werkfolge in symmetrischer Bogenform, wie sie Johann Sebastian Bach gern verwendete. Als äußerer Rahmen fungieren zwei berühmte Passacaglien der Barockzeit, als innerer Rahmen Werke des 20. Jahrhunderts von Jehan Alain.

Fotos/Repros: Susanne Eckstein

Den Themenschwerpunkt „Tanz“ fasst Lohmann anders auf als sein Vorgänger eine Woche zuvor: Er findet das tänzerische Element nicht am Rand, sondern in zentralen Meisterwerken der Orgelmusik; in diesem Fall in der Form der Passacaglia, die mit ihrer ostinat wiederholten Bassfigur nicht nur explizit den Programm-Rahmen bildet, sondern die ganze Werkfolge durchdringt.

Am Beginn steht die Orgel-Passacaglia d-Moll von Dieterich Buxtehude (1637 bis 1707), deren Entstehungszeit unbekannt ist, die aber einen starken Einfluss auf Johann Sebastian Bach ausgeübt haben dürfte. In großer Gelassenheit erklingen die ersten Töne, klar, ausgewogen und analytisch gestaltet Ludger Lohmann den polyphonen Satz. Das ebenmäßige Tanzmetrum im Dreierschritt ist ein natürlicher Teil des Ganzen, die Registerfarbe wechselt abschnittsweise; an einer Stelle muss sie der Organist korrigieren, nachdem er einen abweichend angebrachten Hebel erwischt hat, wie er später erklärt. Per Kamera und Video-Leinwand kann man beobachten, wie souverän und distanziert er im Ganzen zu Werke geht.

Dem eher schlichten frühbarocken Werk folgen im harten Kontrast die drei „Danses“ von Jehan Alain (1911 bis 1940) aus der Zeit um 1939, eine auch für heutige Verhältnisse noch „neue“ Orgelmusik, der man den Einfluss von Olivier Messiaen anmerkt. Die Tonsprache basiert auf einem Modus aus Ganz- und Halbtonschritten, ausgefallene Registrierungen steigern den Ausdruck in extreme Bereiche, die äußerst komplexen Rhythmen und Ostinato-Figuren sind nicht tanzbar. Den Zugang zu Alains Klangwelt dürfte Lohmann die Organistin Marie-Claire Alain (1926 bis 2013) vermittelt haben, eine jüngere Schwester von Jehan Alain, bei der er studiert hat.

Foto: Susanne Eckstein

Erzählt wird von Freude, Trauer und Kämpfen; Ludger Lohmann interpretiert sie detailgenau und in ruhigem Fluss, von übersprudelnden Figurationen über die dunklen Farben und unendlichen Haltetöne bis zu den triumphalen Akkorden am Ende. Traumwandlerisch sicher finden seine Hände und Füße den Weg, auch ohne Assistenten wechselt er in rascher Folge die exquisiten Register-Kombinationen, die die französische Disposition der Rieger-Orgel zulässt. Am Ende beginnen die Ostinati gar zu swingen – das Nicht-Tanzbare tanzt.

Als Zentralstück erklingt der späte „Choral“ Nr. 1 in E-Dur von César Franck (1822 bis 1890). Ein von Franck selbst komponierter Choral im hergebrachten Stil entwickelt sich darin aus vielfältiger motivischer Arbeit, wobei das Ganze ebenfalls auf einer Passacaglia-ähnlichen Grundlinie basiert. Zwar wirkt der Bass diesmal etwas wattig, doch darüber entfaltet sich in aller Ruhe und Klarheit Francks abwechslungsreiche Fülle der Farben und Harmonien.

Danach kehrt Ludger Lohmann zurück zu Jehan Alain. Nach den in Kriegszeiten entstandenen „Danses“ wirken die „Deux Danses à Agni Yavishta“ (zwei Tänze an das göttliche Feuer) von 1932 geradezu archaisch-naiv. Auch sie verwenden Ostinato-Figuren und exotische Register, doch – wenn man wollte – könnte man zu ihren Rhythmen tanzen.

Foto: Susanne Eckstein

Am Ende steht als Glanz- und Höhepunkt die Passacaglia c-Moll (BWV 582) von Johann Sebastian Bach (1685 bis 1750). Wie oft hat der vielfach ausgezeichnete Organist dieses Stück wohl schon vorgetragen und seinen Studenten erläutert? Eine gewisse Routine ist unverkennbar, doch sie erlaubt dem Organisten das freie, abgeklärte Nachzeichnen der kunstvollen Strukturen. Die prägnant registrierte und würdevoll schwingende Pedalbass-Melodie dient als roter Faden und klingt im Ohr nach, auch wenn Bach sie verlegt oder stark verändert; darüber entfaltet Ludger Lohmann in vielstimmigen Variationen und diskreter Virtuosität die göttliche Fülle der Bach’schen Ideen.

Braucht das Publikum mehr mitreißende Emotion? Der Applaus ist lebhaft, aber nicht überschwenglich. Als Zugabe erklingt – passend zu der ganzen Werkfolge – Max Regers ruhiges „Basso ostinato“ aus op. 129.

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