Beim Reutlinger Orgelsommer spielte am Samstagabend Georg Oberauer auf der Rieger-Orgel
REUTLINGEN. Als Gäste im Reutlinger Orgelsommer werden gern Organisten aus der Region eingeladen. Beim Orgelkonzert an der Rieger-Orgel der Marienkirche stellte sich am gestrigen Samstag Georg Oberauer vor: Ursprünglich im Salzburgischen aufgewachsen, ausgebildet als Organist, Pianist und Musikwissenschaftler in Salzburg, Stuttgart und Tübingen, vielfach ausgezeichnet und vielseitig tätig, ist er seit 2023 Domorganist in Rottenburg und Professor an der dortigen katholischen Hochschule für Kirchenmusik.
Seiner Werkfolge ist zwar kein Motto beigegeben, doch sie dreht sich in kontrastreichem Wechsel um tänzerische Musik. Auch wenn die „Königin der Instrumente“ nach wie vor der Kirchenmusik dient, beruht sie wie alle Musik auf Metrum und Rhythmus, und schon immer haben Tänze Eingang in die komponierte Musik gefunden, auch in die Orgelmusik. Das heutige Konzertpublikum lauscht den Tänzen von einst, während es reglos auf Stühlen sitzt und allenfalls mit den Füßen wippt.
Dazu gibt Georg Oberauer wenig Anlass: Er präsentiert sich als souveräner und virtuoser Organist, versucht aber nicht explizit, den Aspekt des Tänzerischen mittels präzisiertem Metrum und scharf gezeichneten Rhythmen zu betonen. Auch die eher statische Video-Übertragung von der (vermutlich drückend heißen) Orgelempore auf eine Leinwand überm Altar bringt wenig; ein großer Teil des zahlreichen Publikums bevorzugt die Stuhlreihen mit Blick zum Orgelprospekt (und dem Rücken zur Video-Leinwand).
Der Auftakt mit einer „Tanz-Toccata“ von Anton Heiller (1923–1979) klingt ein wenig nach Bürgerschreck-Musik des 20. Jahrhunderts: Die traditionell reihende Toccatenform wird gefüllt mit dissonanten Clustern und provozierend schrägen Figurationen. Dazu bilden Jan Pieterszoon Sweelincks (1561–1621) Variationen über den „Ballo del granduca“, den um 1600 weit verbreiteten „Tanz des Großherzogs“, einen schlichten Kontrast: Die große Rieger-Orgel klingt hier, ganz ohne Pedalbass und vorwiegend mit lieblichen Flöten registriert, wie eine kleine Truhenorgel.
Mit Louis Vierne (1870–1937) kommt die französische Spätromantik zu Wort; die „Berceuse“ in sanften Pastellfarben und weicher Bewegung, das „Impromptu“ eher pianistisch in lebhaften Figurationen wie schimmernde Perlenketten. Als ruhigen Gegenpol zu dem diesseitigen Klangzauber fügt Georg Oberauer eine eigene Improvisation über das alte evangelische Kirchenlied „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“ ein. Wer kennt die Melodie, wer erkennt sie wieder in der jazzig inspirierten persönlichen Umformung? Schwebende, lang gehaltene Harmonien inspirieren zur Meditation über die Vergänglichkeit.
Wer kennt den Komponisten Wolfram Rehfeldt (*1945)? Er war lange Jahre Domorganist und Professor in Rottenburg und damit Vor-Vorgänger von Georg Oberauer; die „Rumbata“ verknüpft den Rumbaschritt mit dem brillanten Spiel der französischen Toccata zu einem kleinen, virtuos sprühenden Feuerwerk, gefolgt von Bachs meisterhafter Triosonate Nr. 4 in e-Moll, die mit ihren klaren, sauber getrennten Stimmverläufen Ruhe ins Spiel bringt.
Als weitschweifigstes Stück des Abends erweist sich danach die Toccata C-Dur von Franz Schmidt (1874–1939), dessen „Zwischenspiel aus Notre Dame“ (ein grandios überhöhter Csardas) einigermaßen populär geblieben ist. Seine Toccata in C aus dem Jahr 1924 hört man seltener – vielleicht, weil sie schwierig zu spielen ist und trotz ihrer mitreißenden Machart à la française das Ohr durch mehrmalige scheinbare Schlusswendungen in die Irre führt? Um so erfreulicher, dieses Prachtstück für die große Orgel einmal von kundigen Händen vorgeführt zu bekommen.
Zurück zur kleinen Orgel geht es – eigentlich – mit Mozarts Stück für ein Orgelwerk in eine Uhr f-Moll KV 594. Während die meisten Interpreten seiner Bestimmung als Spieluhr-Musik folgen und es entsprechend schlicht ausführen, entscheidet sich Georg Oberauer jedoch für eine Anpassung an die große Orgel, also opulenteren Klang und eine „romantische“ Spielweise.
Als fulminanten Abschluss wählt er den „Hamburger Totentanz“ des Schweizers Guy Bovet (*1942), komponiert im Jahr 1987 als erstes von drei „Préludes“. Ähnlich wie in seinen hier schon einmal zu hörenden „Tangos ecclesiasticos“ erlaubt sich der Komponist hier einen musikalischen Spaß, indem er ins ostinate Spiel der Figuren Fremdzitate einflicht. Die werden allerdings unter Oberauers flinken Händen (und Füßen) dermaßen durch die virtuosen Begleitfiguren überwuchert, dass man allenfalls die Anfangstöne von Beethovens „Albumblatt für Elise“ ausmachen kann. Für den spontan einsetzenden lebhaften Applaus bedankt sich Georg Oberauer mit einer besinnlichen Dreingabe.