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LTT-Matinee – Lebenslügen zum Judenhass

Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der „Jüdischen Allgemeinen“, diskutiert im Tübinger Landestheater über „Deutsche Lebenslügen“ nach dem Hamas-Massaker und zum fortdauernden Gaza-Krieg

TÜBINGEN. Der Chefredakteur der „Jüdischen Allgemeinen“ lässt keinen Zweifel daran, welcher Hälfte der israelischen Gesellschaft seine Sympathien gehören: der regierungskritischen, für die Premier Netanjahu „eine Zumutung“ sei. LTT-Intendant Thorsten Weckherlin hat Philipp Peyman Engel eingeladen, um sein Buch „Deutsche Lebenslügen: Der Antisemitismus, wieder und immer noch“ vorzustellen. Der helle Obere Theatersaal war überfüllt an diesem Sonntagmorgen. Unter den rund hundert Gästen: Landrat Jürgen Walter, OB Boris Palmer und Bestseller-Autor Peter Prange.

Es beginnt mit nettem Small talk – um Fußball, das Ruhrgebiet, wo Engel aufgewachsen ist, auch um das ESC-Schlagerspektakel vom Vorabend mit dem zweiten Platz für Israel und die Querelen davor. Es gibt Komplimente für das „sympathische Publikum“ und die „bürgerliche und funktionierende“ Stadt Tübingen. Engel selbst lebt mit Frau und drei kleinen Kindern in einer, so wörtlich, „furchtbaren Stadt“, im Berliner Wedding, ganz nah am Epizentrum eines neuen, mit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 ausgebrochenen Judenhasses – noch vor der ersten militärischen Reaktion Israels, wie der Journalist betont.

Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der „Jüdischen Allgemeinen“, bei seiner Buchvorstellung im Tübinger LTT.
Fotos: Martin Bernklau

Engel selbst hat bis vor kurzem noch selber Fußball gespielt bei Makkabi Berlin. Doch wie in ganz Deutschland – er wies auch auf die Amsterdamer Pogrome gegen israelische Fußballfans hin – würden seit dem Hamas-Massaker die jüdischen Sportler immer wieder „beschimpft, angegriffen und gejagt“. Es sei zwar noch eine „kleine Gruppe“. Doch sie versuche, „jüdisches Leben zu attackieren, unsichtbar zu machen, zu gefährden“. Es gebe zwar den fortdauernden Antisemitismus von rechts, doch eben auch einen drastisch zunehmenden Judenhass von muslimischer und von linker Seite. „Aber keiner will das benennen“, beklagt er. So stark Deutschland im Erinnern sei, auch im Kampf gegen Rechts, gegen „blaulackierte Braune“, so wenig gestehe man sich dieses „Riesenproblem, gerade in Berlin“ ein. Das sei „leider das neue Normal“, sagte Engel.

Nach dem Massaker vom 7. Oktober, dem größten Massenmord an Juden seit der Shoah, dem Holocaust, sei es gerade im deutschen Kulturbetrieb „außerordentlich still“ geblieben, doch mit Beginn der israelischen Gegenwehr plötzlich „sehr laut“ geworden. Philipp Engel hält das für „verlogen und heuchlerisch“, und nennt Namen: die Politikerinnen Claudia Roth oder Annalena Baerbock, die „nur Israel dämonisieren“ würden. Aber auch die französisch-jüdische Anti-Zionistin Emilia Roig brachte er als Beispiel. Gerade diese Aktivistin habe bei einer Debatte in Berlin eingestehen müssen, noch nie in Israel gewesen zu sein.

Es werde bei solchen Anti-Zionisten geflissentlich übersehen, dass Israel keineswegs ein „Staat weißer Kolonialisten“ sei, sondern jeder zweite Israeli einen nahöstlichen, arabischen und nichtweißen Hintergrund habe. Da gab ihm Landrat Jürgen Walter aus einer ganz frischen Erfahrung mit einem Partnerkreis nahe Haifa Recht: Das jüdisch-arabische Zusammenleben funktioniere dort „ganz hervorragend“. Er habe das in einem rein arabischen Dorf gesehen und von den dortigen israelischen Palästinensern bestätigt bekommen.

Für die meisten jüdischen Israelis dort sei der Staat aber „Heimat und Lebensversicherung schlechthin“, bemerkte der Journalist. Aber auch für Juden in der weltweiten „Diaspora“ gelte das. Die antijüdische Stimmung veranlasse immer mehr Juden, „die gepackten Koffer bereitzuhalten“. Das gelte inzwischen auch für ihn selber und seine Familie, gestand Engel ein: „Das ist bitterer Ernst. Wir sind Deutsche, aber die Gefahr, dass da ein Tag X kommt, ist hoch.“ Thorsten Weckherlin, seit Jugendjahren ein Kenner Israels, spitzte das sarkastisch zu: „Ein Land, in dem jeden Tag Bomben fallen, als Lebensversicherung – das ist ganz schön mutig.“ Immerhin aber biete der „Iron Dome“ doch einen recht guten Schutz.

LTT-Intendant Thorsten Weckherlin (links“ und sein Gast, der jüdische Chefredakteur Philipp Peyman Engel aus Berlin. Fotos: Martin Bernklau

Was diese Abwehr für Israelis sei, ergänzte der Intendant, seien für die Hamas im Gaza-Streifen die Tunnel als Schutz gegen israelische Bomben – und zwar mit der Zivilbevölkerung als Schutzschild. „Das Leben in Gaza ist die Hölle“, bestätigte Engel, „aber die Hamas will diesen Krieg. Sie will ihn nicht beenden. Und Israel muss diesen Krieg führen.“ Teilweise seien die Ziele auch erreicht worden. Die Armee tue dabei viel, um die Zivilisten zu schonen und zu schützen. Aber darüber werde hierzulande weitgehend geschwiegen, monierte er – wie über das Massaker als Grund dieses Krieges, worüber sich auch der Schriftsteller Peter Prange empörte.

„Der diaboliasche Plan der Hamas ist voll aufgegangen“, sagte der Chefredakteur. Was Engel provokativ als „postkoloniale Endlösung“ zuspitzte, ist für ihn eine unheilige Allianz: „Die postkoloniale Linke verschwistert sich mit antisemitischen muslimischen Migranten.“ Und gerade für Deutschland ergänzte er das sarkastisch um eine besondere deutsche Komponente mit Vergangenheitsbezug: „Befreit Palästina von der deutschen Schuld!“.

Nach Vorlesen war Philipp Peyman Engel eher weniger zumute. Er beschränkte sich auf ein, zwei Seiten, um die ihn der Gastgeber gebeten hatte. Thorsten Weckherlin hatte zuvor beklagt: „Es fehlt in der Debatte hierzulande die Empathie für Juden.“ Die lebhafte Diskussion drehte sich schließlich vor allem um die Frage, ob der fortdauernde Gazakrieg als Reaktion Israels auf das Massaker noch angemessen sei. Als „Genozid“, als geplanten Völkermord wie die Menschheitsverbrechen der Nazis, wollte ihn auch im Publikum niemand bezeichnen.

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