Website-Icon Cul Tu Re

Lindenhof – Die Freiheit des Irren

Das Melchinger Lindenhof-Theater eröffnet die Spielzeit in der Mössinger Pausa mit Franz Xaver Otts grandiosem Solo über Gustav Mesmer, den „Ikarus vom Lautertal“

MÖSSINGEN. Möglicherweise hätte auch die moderne Medizin den Sonderling zum Schizophrenen erklärt und in die Geschlossene gesperrt. Gustav Mesmer nannte sich selbst einen „Flugforscher“. Franz Xaver Ott, der Lindenhof-Schauspieler, Autor und Archäologe der regionalen Geschichte, hat sich intensiv mit dem Mann von der Alb beschäftigt, der seine irrwitzige Lebensbahn überwiegend in Anstalten ziehen musste. Sein Solo „Ikarus vom Lautertal“ brachte er am Freitagabend als grandioses Monospektakel auf die Bühne einer ausverkauften Bogenhalle in der einstigen Mössinger Pausa.

Franz Xaver Ott als sinnierender und schreibender Gustav Mesmer. Foto: Lindenhof/Richard Becker

Im oberschwäbischen Altshausen war dieser Gustav Mesmer 1903 in eine Großfamilie mit zehn oder elf Geschwistern hineingeboren worden. Eine schwere tuberkulöse Krankheit warf ihn in der Schule zurück, woraufhin er bald nach Untermarchtal in mönchische Obhut gegeben wurde. In Beuron trat er als Bruder Alexander bei den Benediktinern ein, verließ das Kloster und den Orden jedoch vor der Profess wieder und lernte das Handwerk eines Korbmachers.

Als Korbmacher bei den Benediktinern begann das weitgehend autodidaktische Bastel-Genie Gustav Mesmer seine handwerkliche Ausbildung. Foto: Martin Bernklau

Der gotteslästerliche Zornesausbruch in einer Kirche („Alles Schwindel!“) brachte den 26-Jährigen zwangsweise in die Irrenanstalt von Schussenried. Später wechselte er mit der Diagnose Schizophrenie und „Erfinderwahn“ in die Heilanstalt nach Weißenau. Zahllose kleine Fluchten und Anträge auf Entlassung begleiteten seine 35 Jahre währende Zwangsunterbringung. Wahrscheinlich seines Fleißes und seiner Fertigkeiten wegen entkam Mesmer der Nazi-Vernichtungsaktion „T4“ gegen Behinderte und Psychiatrie-Patienten. „Mein Schaffen hat mich geschützt“, bilanzierte er später selber.

Erst 1964 durfte Mesmer als freier Mensch in ein Altenheim nach Buttenhausen wechseln. Dort lebte, bastelte, arbeitete und schrieb er bis zu seinem Tod mit 91 Jahren unermüdlich weiter und gelangte sogar noch zu Lebzeiten zu einem gewissen Ruhm (Expo 1992 in Sevilla, Museum Recklinghausen) – vor allem als Tüftler von Flugrädern, die er sich als eine Art Lufttaxi vorstellte.

Natürlich bedeutete ihm Fliegen Freiheit. Wirklich abzuheben gelang ihm allerdings nie.

Über dieses Foto Mesmers aus späteren Jahren (mit „Sprechmaschine“)
verfügt die Gustav-Mesmer-Stiftung.
Repro: mab

Für das Stück unter der Regie von Finn Bühr (großer Name! Es ist tatsächlich der Sohn von Siegfried Bühr) und mit musikalischer Untermalung des Tübinger Avantgarde-Gitarristen und Klang-Tüftlers Thomas Maos nahm sich Franz Xaver Ott vor allem Mesmers erstaunlichen Lebensbericht auf 18 eng getippten Seiten, aber auch andere Schriftzeugnisse – Briefe, Gedichte, Berichte – eines hochoriginellen und gedanklich vollkommen klaren Sprach-Akrobaten mit präzisem Gedächtnis zur Vorlage.

In der Kirchentellinsfurter Gustav Mesmer Stiftung ist das Material nebst vielen Beispielen seiner Bastel- und Erfinderkraft gesammelt. Eines der erhaltenen Flugrad-Modelle baute Ott mit Helfern und anderen Mesmer-Fans eigenhändig nach und stellte es auf die Pausa-Bühne.

Mesmer-Darsteller Ott radelt auf seinem nachgebauten Flugrad zur Musik von Thomas Maos. Foto: Martin Bernklau

Dem eigentlichen Stück stellt Franz Ott eine Einführung voran, in der er dieses eigenartige Leben, seinen eigenen Bezug (als nahbei aufgewachsener Hayinger) zu Mesmer und dessen Alterssitz Buttenhausen skizziert und wie im Programmheft darauf hinweist, dass der schrullige Tüftler, Texter, dazu auch Dichter und Denker Mesmer der eigentliche Autor sei. Eine Art Collage also. Weil Mesmer seine Texte in einem eigenwillig kreativen und assoziativen Hochdeutsch verfasst hat, wird der Schauspieler nur selten kurz in originäres Schwäbisch verfallen können, wie es in der Lindenhof-Geschichte gepflegt wurde.

Diesen Ausweis als „Privat Ordensmann“ bastelte sich Mesmer wohl in der
Heilanstalt Weißenau.
Repro: mab

Es ist eine hohe Kunst, erzählende, berichtende Prosa, einen Monolog bühnentauglich zu machen. Mit seiner ganzen langen Schauspiel-Erfahrung und einer staunenswerten Präsenz gelingt das Franz Xaver Ott ganz großartig. Kleine Gesten, Bewegungen und Tätigkeiten, viel so genaues wie geduldiges Timing und eine außergewöhnlich konturstarke Diktion machen ihm das möglich. Ein paar schwarzweiße Video-Einspieler im Hintergrund bringen zusätzliche Lebendigkeit in die hochspannende, höchst intensive Darbietung.

Das Fluggerät ist fast fertiggestelt. Foto: Martin Bernklau

Die kreativen Klangexperimente zwischen Geräusch und Ton, Loop und Rhythmusmaschine, dazu und auch mal gefälligen Akkorden oder Arpeggien, die Thomas Maos beifügte, waren sorgsam abgestimmt, gerieten aber zulasten der Textverständlichkeit stellenweise eine Spur zu laut.

Für das großartige Bühnen-Biopic bedankte sich das Publikum – nachdem es dem Geschehen anderthalb dichte Stunden lang gebannt und mucksmäuschenstill gefolgt war – mit frenetischem Jubel und stehenden Ovationen.

Blumen und Jubel für den Autor und Darsteller Franz Xaver Ott, für Regisseur Finn Bühr und den Klangmagier Thomas Maos (rechts). Foto: Martin Bernklau

Die mobile Version verlassen