„Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes“, der neueste und wohl letzte Film von Edgar Reitz, läuft im Tübinger Atelier und im Reutlinger Kamino an
TÜBINGEN/REUTLINGEN. Von einem lebenden Denkmal wie dem greisen Edgar Reitz vor die Kamera gerufen zu werden, das wird auch für große Mimen wie Edgar Selge, Barbara Sukowa und Lars Eidinger ein Angebot gewesen sein, das sie nicht ablehnen konnten. Schon seine „Heimat“, die ihm Weltruhm brachte, hatte Reitz eine Chronik genannt, wie diesen Historienfilm um den Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz, die Königin Sophie Charlotte von Preußen, deren kurfürstliche Mutter Sophie und seine junge Porträtmalerin (Aenne Schwarz) auch.
Die Episode ist erfunden. Aber wahr ist, dass Gottfried Wilhelm Leibniz der Mentor von Sophie Charlotte war, der einzigen Tochter der hannoverschen Kurfürstin Sophie von der Pfalz (Barbara Sukowa). Charlotte (Antonia Bill) wurde zur Heirat im Rahmen des üblichen Ehe-Geschachers im europäischen Hochadel nach Brandenburg gegeben und als zweite Gemahlin Friedrichs I. in Berlin zur ersten Königin Preußens. Dort allerdings fremdelte die Hochbegabte in einer kalten Ehe und hatte Heimweh nach Hannover, der Mutter und dem tief verehrten Lehrer Leibniz. Auch dass sie dort am 1. Februar 1705 bei einem Heimatbesuch in Gegenwart beider starb, ist historisch überliefert.
Edgar Reitz, inzwischen 92 Jahre alt, hat aus der Geschichte und der erfundenen Begebenheit zusammen mit Co-Autor Gert Heidenreich und Co-Regisseur Anatol Schuster ein Kammerspiel gemacht, das die Begegnung von Geist, Macht und Kunst in sorgsam komponierten Bildern mit subtiler Lichtführung schildert. Hauptschauplatz ist das Atelier, wo das Leibniz-Porträt für die einsame Königin entstehen soll. Nur manchmal schweift die Kamera ins Offene spätherbstlich vernebelter Barockgärten und in Säle oder Treppenhäuser prächtiger Schlösser.
Gottfried Wilhelm Leibniz war ein hochbedeutender, doch vielleicht etwas langweiliger Philosoph – und ein wichtiger Wegbereiter der Aufklärung. Als genialer Mathematiker (Differentialrechnung, „Leibniz-Zahl“) und Naturwissenschaftler – bei ihm hießen die Atome „Monaden“ – darf er mit seinem binären Zahlensystem auch als Ahnherr der digitalen Welt gelten. Dazu glänzte er als Sprachforscher, Rechtsgelehrter, Historiker und diplomatischer Kultur-Netzwerker. Schon zu Lebzeiten genoss er Weltruhm. Als unerschöpflicher Erfinder, vom U-Boot bis zur Rechenmaschine, war er zudem so etwas wie ein deutscher Leonardo. Vielleicht galten die schönen Künste dem historischen Universalgenie als etwas nachrangiger. Das gleicht Reitz gewissermaßen aus.
Der Auftrag für das Leibniz-Porträt geht zunächst an den (erfundenen) Hofmaler Delalandre, den Lars Eidinger furios als ebenso aalglatten wie blasiert arroganten Fürstendiener darstellt. Als der von den philosophischen Belehrungen seines schwierigen Modells genervte Meistermaler den Pinsel hinwirft, übergibt die Kurfürstin den Auftrag an ihre eigene Entdeckung, die niederländische Malerin Aaltje van de Meer aus der Vermeer-Stadt Delft, die sich in der Männerwelt der Künstler notgedrungen als Mann auszugeben und zu verkleiden pflegt. Auch sie ist eine Erfindung.
Sowohl über die etablierte, der äußerlich dekorativen Pracht verpflichtete Hofschranze Delalandre, als auch über die Newcomerin, die eine völlig andere, der Wahrhaftigkeit verpflichtete Kunstauffassung hat, gibt der Film ein paar sehr detaillierte Lektionen über die Techniken der damaligen Malerei, etwa die diffizile Herstellung der Farben. Wichtiger aber sind die Debatten zwischen Maler und Modell, die bei aller philosophischen Tiefe weder unverständlich noch langweilig werden.
Gegenüber den drei Schauspiel-Granden Sukowa, Eidinger und vor allem Edgar Selge fällt Aenne Schwarz vielleicht in ihrer Intensität und Glaubhaftigkeit – was auch für Charlotten-Darstellerin Antonia Bill gilt – ein wenig ab. Das hat aber auch damit zu tun, dass ihre Rolle als zur Camouflage genötigte Künstlerin zwar die im feministischen Sinn „modernste“, spannendste, aber eben auch die historisch am wenigsten plausible ist.
Foto: Verleih
Es ist eine Wonne, in den ruhig geschnittenen Szenen die ganze bildmächtige Erfahrung und Genauigkeit der Filmlegende Reitz beobachten zu dürfen. Die Kompositionen im Goldenen Schnitt, die geradezu malerisch abgestimmte Farbgebung, vor allem das virtuose Spiel mit Licht und Gegenlicht, die Raumtiefe schaffen, sind wunderbares Kino alter Schule (übrigens im traditionellen TV-Format). Keine Experimente und Waghalsigkeiten, keine Moden mehr.
Dass „Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes“ diese faszinierende Persönlichkeit nicht in ein facettenreich schillerndes Zeitporträt bettet, sondern ganz asketisch und dialogisch über das Dreick Macht, Geist und eben Kunst im vermächtnishaften Gedankenspiel darstellt, das kann wiederum als Vermächtnis eines abgeklärt altersweisen Filmkünstlers betrachtet werden, dem es um das Wesentliche geht, um den künstlerischen Kern, seine Essenz.
Edgar Reitz ist da ein sehr schönes, leicht melancholisches Abschiedswerk gelungen.
(FSK ab 6)