In den Reutlinger Wandel-Hallen öffnet eine poetische Gruppenausstellung italienischer Künstler mit der jungen Linda Carrara an ihrer Spitze
REUTLINGEN. Schon der lange Titel hat Poesie: „Falscher Marmor und glühende Sterne. Carrara mit Gastini, Spagnulo, Zorio“. Drei Positionen in der Nachfolge der italienischen Arte povera, der armen und kargen Kunst, die ihre große Zeit mit der Studentenbewegung der Sechziger und Siebziger hatte, dazu Werke ihrer Nachfahrin, der 1984 geborenen Linda Carrara, hat Holger Kube Ventura da aus Beständen des Kunstmuseums I konkret zusammengeführt. Zentral im Blick: das Material, die Genres, der Raum, das Politische – und bei Carrara auch die Natur. Womit sie enge Grenzen konkreter Kunst überschreiten. Am Freitagabend um 19 Uhr ist die Eröffnung.
Carraras ältere Kollegen gehörten jener Bewegung an, die als Widerpart einer als kapitalistisch empfundenen Pop Art die italienische Kunst lange prägte, vielleicht sogar beherrschte und weltweit ausstrahlte: der Arte povera. Marco Gastini (1938 bis 2018), Giuseppe Spagnulo (1936 bis 2016) und Gilberto Zorio, Jahrgang 1944, Norditaliener alle drei. Linda Carrara, in Bergamo aufgewachsen, lebt und arbeitet in Mailand und Brüssel.
Gilberto Zorio ist gewiss der politischste unter den vier Künstlern. Drei Arbeiten, die alle um das Pentagramm kreisen, den fünfzackigen Stern, der nicht nur ein uraltes Symbol für Harmonie und Proportion ist, sondern auch Signet für Satanisten oder den kommunistischen Klassenkampf und die Brigate rosse, die italienischen RAF aus den Siebzigern, hat Stifter Manfred Wandel seinerzeit erworben. Gilberto Zorios Fünfzack-Stern ist in Bienenwachs mit Rotem Faden gewissermaßen als hochformatiges Altarbild zu sehen. Gegenüber dieser Arbeit, ist eine Installation aufgebaut, die ein Pentagramm aus glühendem Draht mit dem Speer als Zeichen des Angriffs („Lotta continua“) kombiniert.
Marco Castani dürfte der konkreteste Künstler des ausgestellten Quartetts sein. Neben seinen frühen Versuchen, die Fläche des Malers als Relief in verschiedenen Materialien mit dem Raum zu verbinden, sind drei Großformate zu sehen: eine Struktur von schwarzen Punkten auf weißem Grund, in der ein Koordinatenkreuz mit Lücken gekippt und hervorgehoben wird; eine 46-teilige Arbeit („New York Projekt“) mit exakt vorgeschriebener Hängung, die aus der Ferne wie eine Vervielfältigung von Fontanas Schnitt in die Leinwand wirkt, was hier aber schwarze Striche sind; schließlich das Werk „42, 12 m2 di pittura“, für das er anno 1995 genau 34 nach Pollocks Action-Art auf den Boden getröpfelte Bleiformen auf der Reutlinger Großwand angebracht und ihren Platz für eine Retro-Verwendung wie die jetzige exakt festgelegt hat.
Im Erdgeschoss-Foyer begrüsst sein eiserner „Cerchio spazzato“ rostig die Besucher, ein zerbrochener Kreis. Die zentrale Arbeit von Giuseppe Spagnulo dürfte aber die Plastik „Le armi di Achille“ sein, die Schild und Speer des griechischen Troja-Helden zeigt. Mit antiker Mythologie befasst sich auch seine als Rauminstallation angelegte „Antigone“, eine 13-Teilige Serie von malerisch und bildhauerisch bearbeiteten Kartons.
Der meisten Raum nimmt aber der Querschnitt durch die Arbeiten von Linda Carrara ein, von denen die dreiteilige Mondbahn (auf dem Titelfoto) aus unterschiedlich bearbeiteten Travertin- Onyx und Marmorkreisen nur eine ist. Ihr Bodenstück „Above Reality“ ist eine originelle Kombination aus naturschwelgerischem Fotoprint mit drei beweglichen Bronzeguss-Teilen, deren unsichtbare Unterseite golden strahlt. Auch mit dem Marmor, dessen berühmten Namen sie trägt, beschäftigt sich Linda Carrara: mit zwei Stelen, alten Holzbalken beispielsweise, deren Oberseite kein Stein ist, sondern eine täuschend echte Bemalung. Zwei runde Säulen, am Schaft marmoriert oder ein gefalteter Paravent („Polittico“), dessen Vorderseiten Frottagen zeigen, während das Rückwärtige ein aufgemaltes Carrara-Imitat ist. „Falsa Carrara Marble“ ist die Werkreihe betitelt.
Info: Die Ausstellung „Falscher Marmor und glühende Sterne. Carrara mit Gastini, Spagnulo, Zorio“ wird am morgigen Freitagabend um 19 Uhr in den Wandel-Hallen (Kunstmuseum I konkret, 2. OG) eröffnet und wird dann bis zum 28. Juni 2026 in der Reutlinger Eberhardstraße 14 zu sehen sein. Öffnungszeiten: Di-So 11 bis 17, donnerstags bis 20 Uhr, montags geschlossen.