Der Tübinger Kammerchor Concerto vocale unter Leitung von Peter Unterberg singt in der Reutlinger Katharinenkirche
REUTLINGEN. In Zeiten wie diesen erfreuen sich geistliche Abendandachten einer gewissen Beliebtheit. Manche Chorkonzerte enden mit der Bitte um Frieden wie die traditionelle Form der Heiligen Messe, die mit „Dona nobis pacem“ schließt; Martin Luther hat den deutschen Text „Verleih uns Frieden gnädiglich“ mit einer gregorianischen Melodie verbunden. Beide Elemente verzeichnete das Konzert des Kammerchors Concerto vocale Tübingen in der an diesem strahlenden Sommerabend mäßig besuchten Katharinenkirche Reutlingen.
Der Kammerchor Concerto vocale Tübingen, 1996 durch Peter Unterberg gegründet und neben anderen Ensembles an der Universität angesiedelt, trat – terminbedingt – in einer verkleinerten Besetzung von zehn männlichen und acht weiblichen Choristen an. Wobei zu berücksichtigen ist, dass studentische Chöre wie Knabenchöre einer ständigen Fluktuation und damit einem hohen Anspruch an die jeweils „Neuen“ unterworfen sind.
Das Programm schöpft aus dem reichen christlichen Erbe Europas; vertreten sind Spanien, England, Frankreich, Italien, Russland, Deutschland sowie die USA bzw. Neu-England; ebenso kontrastreich wechseln die Epochen zwischen Frühbarock, Romantik und 20. Jahrhundert.
Unterberg. Foto: Susanne Eckstein
Die chorische Andacht folgt teilweise der Messliturgie: Den Auftakt bildet ein Kyrie von Tomás Luis de Victoria in intensivem, homogenem Klang, inspiriert durch das präzise Dirigat von Peter Unterberg; sowie Brahms‘ Motette „Ach, arme Welt“ mit einer schmerzhaft ausgreifenden Melodie. Ebenso schlicht und in sauberer Aussprache erklingt Duruflés „Notre père“. Ein wenig dynamischen Kontrast erhält Monteverdis „Adoramus te“, gefolgt von Distlers „Verleih uns Frieden“, das auf der alten, von Luther verwendeten Melodie beruht und 1933 veröffentlicht wurde.
Mit „O praise the Lord” von William Viner und einer Psalmvertonung von Stephen Jenks kommen Stücke zu Gehör, die hier vermutlich noch keiner gehört hat: schlichte englische Laienchorsätze aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bei Jenks seltsam karg in leeren Quinten.
Aufhorchen lässt ein rares liturgisches Werk von Tschaikowski (Cheruvimskaja pesn Nr. 1 bzw. „Hymn to Trinity“), meisterhaft gesetzt und inbrünstig schwingend gesungen, kontrastiert durch einen der liturgischen Gesänge seines Zeitgenossen Heinrich von Herzogenberg.
In die Gegenwart führt ein „Sanctus“ von Peter Unterberg selbst. Darin lässt er seinen Choristen die Freiheit, die Stimmen zwar imitatorisch gebunden, aber in je eigenem Zeitmaß frei schweifen zu lassen – das Ergebnis ist eine lebendig bewegte, farbige Vielstimmigkeit.
Einem Ruhepunkt mit einem Agnus Dei von Monteverdi folgt ein spektakuläres Schlüsselwerk der Neuen Musik – ganz ohne Musik: „4‘33“ von John Cage, diesmal in einer Chorfassung. Das Stück besteht aus drei kurzen Sätzen, diese wiederum nur aus Pausenzeichen. Die Ausführenden stehen als stummer Chor vor dem Publikum, öffnen und schließen die Notenmappen, der Dirigent vollzieht diskrete Gesten, und eine Chorsängerin misst mit dem Zollstock Bänke, Klavier und Mitsängerin – eine rätselhafte Aktion, die zum Nachdenken anregt.
Einer der Bedeutungsaspekte von „4‘33“ erschließt sich gleich danach, wenn der Kammerchor wieder ganz „normal“ zu singen beginnt: Mendelssohns Motette „Jauchzet dem Herrn, alle Welt“ (nicht das berühmtere WoO 28, sondern aus op. 69) wirkt nach dem langen Verstummen im Ausdruck gesteigert; die Leerstelle zuvor macht den mehrstimmigen menschlichen Chorklang und den geistigen Gehalt des Gesungenen umso sinnlicher und sinnfälliger, das abschließende „Amen“ in seiner achtstimmig aufgefächerten Kraft umso prächtiger.
Die stilistische Verbindung zwischen all den konträren Welten erwächst aus der inneren Haltung und der sicheren, geschlossenen Gestaltung durch alle Beteiligten: Der junge Chor konzentriert sich auf Wort und Ton in reiner Intonation und natürlichem Gestus ohne jegliche künstliche Dramatisierung; der meist vierstimmige Gesang entfaltet sich in der trockenen Akustik der kleinen Kirche plastisch und hautnah.
Als Zugaben erklingen „Groß ist der Herr“ von Carl Philipp Emanuel Bach (ein seltenes frühklassisches Chorwerk) sowie eine Wiederholung von Distlers „Verleih uns Frieden“. Herzlicher Applaus dankte den Ausführenden.