Website-Icon Cul Tu Re

Christuskirche – Abschied mit Hingabe

Mehrere Chöre und Solisten beteiligten sich an einer Gesamtaufführung des Bach’schen Weihnachtsoratoriums unter der Leitung von Martin Künstner in der ausverkauften Reutlinger Christuskirche

REUTLINGEN. So schnell kann’s gehen: Schon kommenden Februar sollen Orgel und Kirchenbänke ausgebaut werden, damit die Christuskirche komplett in ein Diakonisches Zentrum umgestaltet werden kann. Für eine Konzertkirche, als welche sie 1936 eingeweiht wurde, ist da kein Platz mehr. Seit über 80 Jahren dient der große Raum mit den aparten Wandmalereien als Konzertstätte; die Verfasserin hat dort fast jährlich Aufführungen der Reutlinger Chöre miterlebt, etwa – wie jetzt – von Chorleiter Martin Künstner mit „seinem“ Philharmonia Chor Reutlingen und der Betzinger Sängerschaft, heute Konzertchor Reutlingen. Für sie war die Christuskirche eine zuverlässig und günstig verfügbare Konzertstätte mit der richtigen Größe und Akustik. Wie es ab 2025 weitergehen soll, ist unklar.

Diese Aufführung des Weihnachtsoratoriums war damit nicht nur Schluss- und Höhepunkt im Konzertjahr, sondern zugleich Abschied von der Christuskirche. So viele Besucher drängten herein, dass zusätzliche Stühle aufgestellt und der Anfang um eine Viertelstunde verlegt werden musste.

Martin Künstner dirigiert alle sechs Teile von Bachs Weihnachtsoratorium mit seinen Chören in der Reutlinger Christuskirche. Fotos: Susanne Eckstein

Das berühmte „Jauchzet, frohlocket“ bildete den freudigen Auftakt zu einer ungewohnt langen Aufführung. Mit Blick auf den Ablauf griff Martin Künstner auf ein früheres Konzept zurück, mit dem er Bachs Baukastenwerk unauffällig kürzte und straffte. Wie damals wurden die Kantaten nun quasi durchmusiziert; nur zwischen den Teilen 3 und 4 gab es eine kurze Pause zum Durchatmen und Bonbonauswickeln für alle. Als Instrumentalensemble fungierten bewährte Profis (unter anderem) aus der Württembergischen Philharmonie Reutlingen; die Erwachsenenchöre wurden ergänzt durch den Kinderchor der Wilhelm-Hauff-Realschule Pfullingen.

Tenor Marcus Elsässer zwischen den Solistinnen Mirjam (links) und Johanna Kapelari. Foto: Susanne Eckstein

Die Solistenbesetzung war dieselbe wie im Vorjahr, wo die Kantaten 1, 3 und 6 aufgeführt wurden: Johanna Kapelari (Sopran), Mirjam Kapelari (Alt), Marcus Elsässer (Tenor) und Matthias Bein (Bass). Sie stellten erneut ein vorzügliches Solistenquartett, wobei allenfalls die klangliche Distanz zwischen dem kindlich feinen Sopran und den tragfähigeren Stimmen der Kollegen negativ auffiel. Marcus Elsässer ist zu einem Evangelisten erster Güte gereift; er gestaltete seine Rolle komplett auswendig mit plastischer Sprache und natürlichem Gestus. Mirjam Kapelari überzeugte mit ausdrucksvoll durchgestalteten Alt-Arien, Johanna Kapelari mit zarten Höhenflügen im Kontrast zu den soliden Bass-Soli von Matthias Bein.

Bass-Solist Matthias Bein und Johanna Kapelari (Sopran). Foto: Susanne Eckstein

Der etwa 120-köpfige Chor widmete sich den komplizierten Chorsätzen ebenso wie den schlichten Chorälen mit großer Hingabe; die einen wurden mit stets neuem Schwung lebhaft und detailgenau, die andern eher geruhsam umgesetzt. Dass das Zusammenspiel der schweren vokalen Klangmasse mit dem kammermusikalisch besetzten Instrumentalensemble relativ sicher gelang, ist dem erfahrenen Dirigat von Martin Künstner zuzuschreiben.

Anders als sonst war diesmal die Kantate Nr. 4 mit den Hörnern und der Echo-Arie zu hören. Der runde, helle Hörnerklang ergänzte das Klangbild aufs Schönste, die sentimentale Echo-Arie litt jedoch unter schwachen Echos aus dem Off. Dem Chor „Ehre sei dir Gott gesungen“ in Kantate Nr. 5 merkte man die Schwierigkeit und die lange Aufführungsdauer schon ein wenig an, Hoffnung und Stimmglanz brachte danach das Solisten-Terzett „Ach, wann wird die Zeit erscheinen“. Textlich sind derlei Herzensergießungen schon seit 200 Jahren überholt, nur die überzeitliche Qualität der Bach’schen Musik trägt sie in die Zukunft. Die bekanntere, sieghaft abschließende Kantate Nr. 6 schlägt dann den Bogen zurück zum Jauchzen des Anfangs.

Er singe das WO zwar sehr gern, aber als Sixpack sei es ziemlich heftig, bekannte danach einer der Chorsänger. Tatsächlich wurden aus den angegebenen zwei Stunden zweieinhalb; Martin Künstner mobilisierte mit nimmermüder Kraft die Mitwirkenden für das Finalstück „Nun seid ihr wohl gerochen“, das mit Pauken und Trompeten den Sieg Christi feiert, gefolgt vom Jubel und den Standing ovations des Publikums.

Man kann den Abschied von der Christuskirche auch als Zeichen des seit „Corona“ zu beobachtenden Niedergangs im Kulturbereich sehen. Mit einer Träne im Knopfloch verabschiedeten sich Mitwirkende und Besucher voneinander – und von der langgedienten, vertrauten Konzertstätte.

Die mobile Version verlassen