Website-Icon Cul Tu Re

Brahms-Requiem: Trauer und Trost zum Totensonntag

Brahms-Requiem in der Tübinger Stiftskirche. Foto: Martin Bernklau

In der Reutlinger Christuskirche und der Tübinger Stiftskirche zelebrierte Marcel Martínez mit dem Stephanuschor das „Deutsche Requiem“ von Brahms

TÜBINGEN/REUTLINGEN. Es sind eigentlich drei Chöre, die Marcel Martínez nach dem Lockdown-Elend zu einer Wiederauferstehung, an zwei Orten zu seiner eigentlichen Premiere als Dirigent zusammengeführt hat: Der Tübinger Stephanuschor, das Vokalensemble und der Reutlinger Kammerchor traten am Vorabend in der Reutlinger Christuskirche, am Totensonntag in der Tübinger Stiftskirche mit dem „Deutschen Requiem“ von Johannes Brahms auf. Zusammen mit dem Concerto Tübingen als Orchester und den Vokalsolisten Susan Eitrich und Wojciech Latocha.

Marcel Martínez: Foto: mab

Der katalanische Kantor leitet die Chöre aus der Tübinger Weststadt als Nachnachfolger von Stephanus-Patriarch Hans Walter Maier – schönes Detail: Er sang mit! – Gerhard Steiff und Tabea Flath seit dem Jahr vor der Corona-Zeit, den aus der aufgelösten PH heraus entstandenen Reutlinger Kammerchor schon seit 2015. Aus tiefem katalanischen Herzen stellte Martínez dem tröstenden Totengesang von Brahms die achtstimmige A-cappella-Motette „O vos omnes“ seines großen Landsmanns Pau Casals i Defilló voran, der besser bekannt ist als anti-francistischer Exilant und weltberühmter Cellist Pablo Casals ( 1876 bis 1973).

Foto: mab

Das Klagelied hatte Casals beim Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs noch im Kloster Monserrat uraufführen können. Es ist ein ergreifendes kurzes Lamento in homophon-tonalem, nur durch dissonante Reibungen angeschärften Stil. In leiser Erhabenheit zelebriert, zeigten gegen Ende die Spitzen des Sopran eine minimale Mattigkeit und steckten den riesigen Tripel-Chor beim schwebenden Schlussakkord noch ganz kurz an.

„Ein deutsches Requiem nach Worten der Heiligen Schrift“ war Johannes Brahms ungeheuer wichtig, schon bei der Textzusammenstellung von eigener Hand. Acht Jahre lang feilte er bis 1868 daran und bot alles auf, über was er an Kompositionstechniken, Klangmitteln und verfeinerter Ausdeutung gebot. In konsequent spiegelbildlicher Architektur gruppierte er die sieben Sätze um das zentrale „Wie lieblich sind Deine Wohnungen“ herum – mit den Polen Trauer und Trost. Man könnte, als Coda, den Triumph über den Tod als Thema hinzufügen.

Ganz geheimnisvoll ließ der Dirigent einen ganz zurückgenommenen Chorklang eines „Selig sind, die da Leid tragen“ aus der beklommenen Einleitung des Orchesters heraussteigen. Dieses Leise sollte so etwas wie ein Leitmotiv der ganzen und ganz besonderen Deutung bleiben. Selbst der zweite Satz, „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“, dieser Trauermarsch über unerbittlichem Paukentakt, kam weniger, wie sonst so häufig, als drohend mächtiges Memento herüber, sondern eher als gravitätisch stille Besinnung. Auch die Fugen wollte Marcel Martínez weniger wie eine strenge Kundgebung göttlichen Gesetzes genommen wissen denn als vielstimmig leichtes Abbild der Christenschar, der Menschheit in Leid und Hoffnung. Hin und wieder intensivierte er durch dezentes Anziehen des Tempos oder durch geschmeidige Ritardandi.

Die musikalischen Ausrufezeichen, etwa im endzeitlichen sechsten Satz „Denn wir haben hier keine bleibende Statt“ waren im Gestus weniger Jüngstes Gericht und Tag des Zorns als Triumph über den Stachel des Todes. Ganz sicher ganz im Sinne von Johannes Brahams. Die große Tradition einer Stephanus-Stimmkultur blieb stets hörbar. Aber es ist nicht so leicht, bei einem zurückgenommen zarten und mystischen Grundklang mit einem so großen Chor die leise Spannung zu halten. Ausgerechnet im Zentralsatz faserte die sonst so akkurate Führung der Stimmen stellenweise eine Spur aus. Auch die Textverständlichkeit hätte in den Pianissimi ein paar feine Akzente vertragen können.

So ergreifend und anrührend wie der Chor gestaltete auch Sopran-Solistin Susan Eitrich den himmlisch tröstlichen fünften Satz „Ihr habt nun Traurigkeit“ mit den tränentreibend zärtlichen Jesaia-Worten „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“. Der helle, obertonreiche Bariton Wojciech Latocha hob die Stimme stellenweise zum eindringlichen Prophetenton, stand dieser Innigkeit bei seinen Passagen in den Sätzen „Herr lehre doch mich“ und dem eschatologischen „Denn wir haben hier…“ in nichts nach.

Im Orchester, sehr aufmerksam und zuverlässig, gab es auch schöne Soli wie das der Oboe im Eingangssatz. Selten hat man die Harfe, das Engelsinstrument, so klar über einem zurückgenommenen Instrumentalsatz glitzern hören wie im Decrescendo am Schluss der finalen Fuge „Herr, Du bist würdig“, die göttliche Macht und Würde wieder in die andächtig leise Seligpreisung der erlösten Leidenden. zurückführt.

Foto: mab

Das war eine eindrucksvolle und ganz eigene Stiftskirchen-Premiere für den Stephanuskantor Marcel Martínez. Viel zu früh musste irgendjemand die große Stille nach dem verhallenden Schlusston mit vorlautem Beifall stören, der dann aber ganz zurecht und völlig verdient laut und lang aufbrandete.

Die mobile Version verlassen