Im Tübinger Museum und demnächst im Reutlinger Kamino läuft Fatih Akins minimalistisches Historien-Drama aus den letzten Kriegstagen
TÜBINGEN/REUTLINGEN. Er kann auch das. Fatih Akin hat seinen scharfen Blick bisher auf soziale Brennpunkte und besonders auf die deutsch-türkische Lebenswelt gerichtet. Er ist dafür auch international mit höchsten Filmpreisen ausgezeichnet und zu einem führenden Regisseur des deutschen Kinos geworden. Jetzt hat er mit „Amrum“ nichts anderes als einen poetisch leisen Heimatfilm vorgelegt, für den er zusammen mit Hark Bohm, der zunächst selbst inszenieren wollte, auch das Drehbuch geschrieben hat. Es geht um die Kindheit dieses Freundes und filmischen Mentors auf der Nordseeinsel Amrum.
(Lisa Hagmeister) im Haus der Eltern auf Amrum Zuflucht gefunden. Fotos: Verleih
Es geht genauer gesagt um die letzten Kriegstage. Es geht um das letzte Aufbäumen der auch dort bis zur letzten Minute fanatischen lokalen Nazi-Machthaber und ihrer Mitläufer. Und es geht um diesen Jungen, um Nanning (ganz großartig: Jasper Billerbeck), der zwischen allen steht: seiner Mutter auf der einen Seite, der glühenden Hitler-Verehrerin samt der ganzen, bis zum bitteren Ende regimetreuen Familie Hagener, und den Realisten auf der anderen, die dem nahen Ende ins Auge sehen und dafür, von Denunzianten der „Wehrkraftzersetzung“ bezichtigt und dem Ortsgruppenleiter gemeldet, ihr Leben riskieren; zwischen den alteingesessenen Bewohnern des nordfriesischen Eilands und zwei Zuwanderer-Gruppen: zunächst den ausgebombten Hamburgern wie Nannings Familie, dann den ersten Vertriebenen aus dem Osten, die als „Pollacken“ geschmäht werden.
Fatih Akins Film ist ein auf ein paar wenige Tage verdichtetes Coming of Age. Und es ist eine berührende Hommage an Hark Bohm, den Freund und Förderer, der in der letzten Einstellung wie eine vom Leben gemeißelte Statue am Strand steht, das greise Gesicht von Sonne, Wind und Wetter gegerbt. Ein anderer, ein früher Freund ist Nannings Klassenkamerad Hermann (Kian Köppke). Die Jungs sind insofern Kunstfiguren, als Autobiograf Hark Bohm selber seinerzeit erst sieben Jahre alt war.
Die Radionachricht von Hitlers Tod im Bunker seiner Berliner Reichskanzlei hat bei Mutter Hille (Laura Tonke), mit dem dritten Kind schwanger, eine Sturzgeburt ausgelöst. Der Vater, ein hohes intellektuelles Nazi-Tier, ist als SS-Offizier in englischer Kriegsgefangenschaft. Die Wöchnerin, der es (wie einer Magda Goebbels, der Mörderin ihrer sechs Kinder) unvorstellbar erscheint, dass ihr Nachwuchs in „dieser Welt“ ohne Führer, Herrenvolk und siegreiches Nazi-Vaterland aufwachsen soll, verweigert jede Nahrung. Allenfalls ein Weißbrot mit Butter und Honig würde sie zu sich nehmen.
Der Junge macht sich unter großen Opfern und mit verbissener Findigkeit daran, dieses eigentlich aussichtslose Unterfangen zu bewerkstelligen, für die – trotz all ihrer Härte und führergläubigen Kälte – so geliebte Mama. Diese Suche und das erfolgreiche Auftreiben dieser drei Zutaten per Tausch und allerhand Tricks, als spannendes Abenteuer geschildert, nimmt zwei Drittel des Films in Anspruch. Am Ende erlebt der Bub aber doch eine tief verletzende Enttäuschung.
Immer mehr dämmert es dem Jungen, was diese Herrschaft bedeutet hat. Zu den vielen Auswanderern nach Amerika, Flüchtlingen oder späteren Rückkehrern nach Amrum zählt Nannings Onkel Theo (Matthias Schweighöfer), der seine Frau im Lager verloren hat und jetzt als GI wiederkehrt. Dass sie dort als Jüdin ermordet wurde, hätte ruhig beim Namen genannt werden dürfen. Eine andere Gastrolle hat Hollywood-Star Diane Kruger, die der widerständigen Großbäurin Tessa vielleicht etwas zu glanzvoll ihre charismatische Gestalt gibt. Regie-Kollege Detlef Buck spielt den knitzen Fischer Sam Gangsters hingegen ungemein dicht, mit viel Understatement.
Mit sparsamsten Mitteln, aber ungeheuer eindrücklichen Bildern dieser archaisch kargen Landschaft und des Meers (Kamera: Karl Walter Lindenlaub), dieser Nordsee mit Sand und Watt, mit Ebbe und Flut und mit gefahrvollen Prielen, hat Fatih Akin Hark Bohms zeitweilige Heimat Amrum in Szene gesetzt. Er fügt sogar hochprofessionelle Natur-Nahaufnahmen bei. Bei den Szenen vom ziemlich brutalen Töten und blutigen Ausnehmen der gejagten Karnickel oder des vor die Flinte gelockten Seehundes sollen keine Tiere zu Schaden gekommen sein, versichert der Abspann. Vielleicht hätte man auch eine Triggerwarnung voranschicken sollen für den blutigen Anblick der Leiche des Nazi-Onkels nach dessen Selbstmord…
Die Perspektive eines arglos wohlgesinnten, aber auch hoch aufmerksamen Zwölfjährigen hält Akin mit großer Sensibilität durch. Er schildert nur, will nicht belehren, analysieren, einordnen, will keine Message unter die Leute bringen. „Amrum“ ist auch eine wundervolle Widmung: „Ein Hark-Bohm-Film von Fatih Akin“ heißt es im Vorspann.
(FSK ab 12)